Was uns das Coronavirus über den Umgang mit systemischen Risiken zeigt
03.04.2020
Das Coronavirus SARS-CoV-2 hat unser Leben in kurzer Zeit grundlegend verändert. Die Welt befindet sich in einem Ausnahmezustand, für den noch kein Ende absehbar ist. Die durch das Coronavirus ausgelöste Pandemie ist ein dynamisches Geschehen, das von vielen Faktoren, gerade auch durch menschliches Verhalten (z. B. Hygiene-Verhalten und soziale Kontakte), bestimmt wird und dadurch sehr variabel ist. Die Fallzahlen der Infektionen entwickeln sich zudem in vielen Ländern exponentiell. Da bislang weder Medikamente noch eine Impfung zur Verfügung stehen, kann die Zahl der Ansteckungen nur durch weitreichende Maßnahmen zur Einschränkung der unmittelbaren sozialen Kontakte („physical distancing“) reduziert werden.
Die aktuelle Situation zeigt uns auf, wie wenig sich die systemischen Risiken eingrenzen lassen, die im Zeitalter rapider globaler Menschen-, Waren- und Informationsströme von Pandemien ausgehen. Zum einen breiten sich Erreger in einer globalisierten Welt mit effizientem internationalen Personenverkehr rapide weltweit aus. Zum anderen sind die Auswirkungen der Pandemie nicht auf das Gesundheitssystem begrenzt. Die Pandemie betrifft sämtliche vitale Systeme unserer Gesellschaft, von der Lebensmittelversorgung, dem Wirtschafts- und Finanzsystem, dem Bildungssystem bis hin zum kulturellen und sozialen Leben. Und das nicht nur in einigen Krisengebieten, sondern weltweit.
Corona weltweit: Länder gehen unterschiedlich mit der Bedrohung um
Die räumliche und sektorale Entgrenzung zusammen mit der dynamischen Entwicklung der Pandemie machen es so schwierig, den richtigen Umgang zu finden. Die Reaktionen der Regierungen sind weltweit unterschiedlich. Im zentralgesteuerten, sozialistischen China wurden zügig drastische Maßnahmen zur sozialen Isolation umgesetzt, was sich nun in einem Abflachen der Kurve von Neuinfektionen auszahlt. Großbritannien und die Niederlande reagierten nur zögerlich, fuhren dann aber das öffentliche Leben weitgehend herunter. Schweden geht nach wie vor einen Sonderweg und klammert sich trotz der Krise an Normalität. Schulen und Kitas sind dort noch geöffnet.
Deutschland verschärfte am 22. März 2020 die bereits getroffenen Leitlinien zur Beschränkung sozialer Kontakte. Im föderalen System Deutschlands ist Bevölkerungsschutz Ländersache. Die Leitlinien werden von den Ländern unterschiedlich ausgelegt. Bayern preschte mit Ausgangsbeschränkungen vor. Die Einwohnerinnen und Einwohner sollen das Haus oder die Wohnung nur noch im Notfall verlassen. Andere Bundesländer, wie Brandenburg, erlauben (noch) das Verlassen der Wohnung, z. B. zum Aufsuchen des Arbeitsplatzes und für Sport und Bewegung an der frischen Luft.
Gesundheit, Arbeit, Verkehr: Risiken sind grenzüberschreitend und vernetzt
Jede der getroffenen Strategien hat weitreichende Konsequenzen, deren volles Ausmaß erst im Laufe der Zeit ersichtlich sein wird. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft sind bereits immens. Weltweit haben die Regierungen umfangreiche Hilfsmaßnahmen auf den Weg gebracht, um die Wirtschaft und die Finanzmärkte zu stabilisieren. Dennoch werden bereits Stimmen laut, das öffentliche Leben wieder hochzufahren, um die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft abzuschwächen. Die Risiken, keine oder ungenügende Gegenmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung einzuleiten, müssen gegen die Risiken abgewogen werden, die diese Interventionen für alle Sektoren der Gesellschaft, z. B. Energie, Infrastruktur, Ernährung, Transport und Verkehr, nach sich ziehen.
Doch auch diese Risiken sind grenzüberschreitend und miteinander verschränkt. Die raschen, drastischen Gegenmaßnahmen in China („der Hammer“) führten international zu Lieferengpässen bei Medikamenten. China ist zusammen mit Indien der Haupthersteller von Pharmawirkstoffen. Die schlanken Herstellungsabläufe der Pharmaindustrie sehen kaum Puffer vor und sind dadurch extrem anfällig für Lieferausfälle. Auch die Entscheidung, die deutschen Grenzen zu schließen, hat Folgen - nicht nur für die nachbarschaftlichen Beziehungen in einem geeinten Europa, sondern auch für die Landwirtschaft, der nun die Helfer zur Aussaat und Pflanzung der Setzlinge fehlen. Kein Land und keine Person trägt für sich allein die Verantwortung in dieser Krise.
Angst befördert nationale Abschottung und Populismus
Die ethische Dimension der Pandemie wird z. B. in Italien deutlich, wo bereits aktuell nach dem System der Triage entschieden wird, wie die knappen personellen und materiellen Ressourcen auf die Kranken aufzuteilen sind – nicht nur mit Konsequenzen für die Betroffenen und deren Angehörige, sondern auch für das behandelnde medizinische Personal. Auch in Deutschland steht zu erwarten, dass das Gesundheitssystem an seine Grenzen stoßen wird. Weitreichende Privatisierungen haben das Gesundheitssystem zwar effizienter, aber auch anfälliger gemacht. Die aktuell dringend benötigten Pufferkapazitäten an Personal und Material wurden der Effizienz geopfert.
In Zeiten der Angst und Verunsicherung ist sich wohl jeder selbst der Nächste. Es zeigen sich deutliche Tendenzen zur nationalen Abschottung und zum Populismus. Auch die Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte werden in Kauf genommen. Die diskutierte App zur Standortmeldung von SARS-CoV-2-Infizierten per Handy an sie umgebende Personen sollte vor diesem Hintergrund kritisch reflektiert werden.
Hamsterkäufe gegen den Kontrollverlust
Doch auch jeder Einzelne reagiert auf die wahrgenommene Unsicherheit mit dem Versuch, ein gewisses Maß an Kontrolle zurückzugewinnen. Symptomatisch hierfür sind Hamsterkäufe von Toilettenpapier, Desinfektionsmitteln, Mehl und Nudeln. Auslöser ist das Bestreben nach Kontrolle und Autonomie. Da die Ereignisse im Großen nicht beeinflusst werden können, wird versucht, zumindest im Kleinen Kontrolle auszuüben. Die Handlungen jedes Einzelnen aggregieren sich zu einem kollektiven Phänomen, das die Versorgungssysteme zusätzlich belastet.
Toilettenpapier ist verzichtbar. Kliniken, Arztpraxen und Pflegeeinrichtungen sind jedoch auf Desinfektionsmittel und Schutzkleidung, vor allem hochwertige Atemmasken, angewiesen. Gleiches gilt für die Einschränkung sozialer Kontakte. Wenn schon nicht aus Rücksichtnahme für andere (z. B. Risikogruppen) auf soziale Kontakte verzichtet wird, so sollte doch die Tatsache, dass weiterhin steigernde Infektionsraten die Lockerung der Maßnahmen hinauszögern, zur Einsicht führen. Risikokommunikation hat die Aufgabe, Informationen weiterzugeben sowie die kognitiven und sozialpsychologischen Prozesse anzustoßen, die zu Einsicht und entsprechendem Verhalten führen. In ihrer Fernsehansprache am 18. März 2020 fand Bundeskanzlerin Angela Merkel deutliche Worte zur Verantwortung jedes Einzelnen von uns. Sie machte ebenfalls deutlich, dass die Forschung voranschreitet und getroffene Maßnahmen vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse stetig überprüft und angepasst werden müssen.
Das Coronavirus hat uns die Fragilität unserer Gesellschaft aufgezeigt. Aus dieser Erfahrung sollten wir lernen. Bei allem Negativen sollten einige positive Aspekte der Pandemie ebenfalls erwähnt werden. So hat die Pandemie zu einem kurzfristigen Rückgang der CO2-Emissionen geführt, zu momentan besserer Luftqualität und generell zu einem Rückgang der aktuellen Umweltbelastung beigetragen. Die Krise hat Routinen durchbrochen. Für die Zeit danach gilt es, nicht unreflektiert in die alten Muster zu verfallen.
Exit-Strategien erfordern transdisziplinäre Zusammenarbeit
Einige Initiativen, bislang limitiert auf die klinische Forschung zum Coronavirus, wurden bereits angestoßen. So taugen z. B. umfassende Tests auf SARS-CoV-2 nicht nur zur medizinischen Diagnose, sondern sie sind vor allem zur Forschung nötig. Ebenfalls liegt auf der Hand, dass diese Forschung national (idealerweise auch international) koordiniert werden sollte. Andere Lektionen sind schwieriger zu lernen, da es mit virologischen, epidemiologischen und therapeutischen Studien allein nicht getan ist. Risiko-Governance von Pandemien, und systemischen Risiken insgesamt, ist ein genuin interdisziplinäres Unterfangen. Die gegenwärtige Situation zeigt uns eindrücklich die vielfältigen systemischen Wechselwirkungen von Pandemien mit anderen Risiken auf. Die Abwägung von Risiken gegenüber anderen Risiken, z. B. ob die Gegenmaßnahmen gelockert werden sollten, um die kommende Rezession abzuschwächen, kann dabei nur transdisziplinär stattfinden. Diese Krise bietet also auch Chancen. Nutzen wir sie!