Neue Horizonte in der transdisziplinären Forschung
11.04.2025

Forschung, die in komplexer Realität funktioniert und gesellschaftlich anerkannt wird – geht das? Mit dieser Frage begann und endete die erste Jahrestagung der Gesellschaft für transdisziplinäre und partizipative Forschung e.V. (GTPF) Anfang April 2025 in Frankfurt am Main. Die Frage nach Forschung in gesellschaftlicher Verantwortung stellt eine der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit in den Fokus. Ihre Antwort beginnt dort, wo Wissenschaft und Gesellschaft sich gemeinsam auf den Weg machen.
Die GTPF bietet seit zwei Jahren eine Plattform, die längst über eine bloße Interessenvertretung hinausgeht: Aus der Forschungs- und Community-Plattform für Transdisziplinarität, tdAcademy, entstanden, wuchs die GTPF zu einem Möglichkeitsraum für Menschen aus Wissenschaft, Bildung und Praxis, die gemeinsam an gesellschaftlichen Transformationsprozessen arbeiten. Die erste Jahrestagung „Neue Horizonte in der transdisziplinären Forschung“– mit über 150 Teilnehmenden aus Hochschulen, Forschungseinrichtungen, Projektträgern, Praxispartner*innen, Ministerien und Kunst- und Kulturakteur*innen war ein einladender, vielstimmiger, mal ernster, mal humorvoller Dialog über das, was war, was ist – und was sein kann.
Mit einem Blick zurück auf die vergangenen zwei Jahrzehnte, war der erste Tag der Entwicklung der Transdisziplinarität (TD) und insbesondere den Ergebnissen der von der Robert Bosch Stiftung geförderten TD Academy, gewidmet. Anfang der 2000er noch am Rande des Wissenschaftssystems verortet, hat sich TD zunehmend ihren Platz in der Wissenschaft erarbeitet – als Forschungsansatz, der nicht nur beobachtet, sondern mitgestaltet. Staatssekretär Karl-Eugen Huthmacher vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) schilderte diese Entwicklung sehr eindrucksvoll: Noch 2010 wurde TD im Ministerium als „nicht wissenschaftlich“ eingestuft – heute findet sie sich in beinahe jeder zweiten Stellungnahme. Vernetzung, Integration und Capacity Building sind laut Huthmacher die zentralen Bausteine für eine starke transdisziplinäre Community. Als Beispiel betonte er die Entwicklungen um das Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) am GFZ - ein transformativ, transdisziplinär arbeitendes Institut (ehem. IASS), das 2023 in die traditionell naturwissenschaftlich geprägte Helmholtz-Gemeinschaft (GFZ) integriert wurde – ein Zeichen, so Huthmacher, für die strukturelle Anerkennung transdisziplinärer Forschung.
Woher nun dieser Wandel?
Die Antwort finde sich in einer realistischen Betrachtung der Gegenwart: Die Komplexität gesellschaftlicher Herausforderungen – vom Klimawandel über geopolitische Unsicherheiten bis zur Digitalisierung – verlange nach neuen Formen der Wissensproduktion. Nach Forschung, die Verantwortung übernimmt, die anschlussfähig ist nicht nur an wissenschaftliche, sondern insbesondere an gesellschaftliche Diskurse und deren Wirkungen, die in der Gesellschaft spürbar sind. Wie können diese Wirkungen sichtbar gemacht werden? Welche (Qualitäts-)Kriterien erfassen gesellschaftliche Wirkung? Diese und viele weitere Fragen standen im Zentrum mehrerer Beiträge – unter anderem von der Vizepräsidentin für Digitalisierung und Nachhaltigkeit Kora Kristof (KIT), die für ein neues Verständnis wissenschaftlicher Exzellenz plädierte: „Exzellenz darf sich nicht nur am disziplinären Tiefgang messen, sondern auch an Kooperationsfähigkeit und Wirkung.“ Das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) setze bereits seit über zehn Jahren auf Reallabore als Räume gesellschaftlicher Innovation – mit Projekten wie „Quartier Zukunft“ oder KI-gestützten Experimenten zur städtischen Transformation. TD müsse, so Kristof, raus aus der Blase – hinein in die Breite der Wissenschaft und Forschungspolitik. Eine solche Öffnung bedeute auch, sich dem Unbequemen zu stellen: Viele Akteur*innen reden mit, viel Beziehungsarbeit muss geleistet werden, Prozesse dauern länger, Erfolge sind schwerer zu messen. Aber sie sind da – oft jenseits klassischer Evaluationskriterien und Exzellenzdiktatorik.
Der zweite Tag richtete den Blick in die Zukunft und stelle das Zusammenspiel von Transdisziplinarität und Partizipationsforschung in den Fokus. Während sich TD über viele Jahre als reflexive Wissenschaftspraxis etabliert hat, bringt die Partizipationsforschung langjährige Erfahrung in aktionsorientierten, demokratiefördernden Formaten mit. Trotz unterschiedlicher Ansätze und Verortungen eint beide Felder das Ziel, Forschung für gesellschaftliche Veränderung, gemeinsam mit der Gesellschaft zu machen. Verkörpert durch die beiden Stimmen von Flurina Schneider (Transdisziplinarität) und Andreas Bischof (Partizipationsforschung) wurde ein gemeinsames Fazit erarbeitet: Partizipation ist risikofreudiger, nah am Jetzt, direkt wirksam, TD denkt systemischer, langfristiger – oft etwas „verkopfter“.
Beide brauchen einander, um Veränderung ganzheitlich zu ermöglichen. Denn ob innere oder äußere Transformation: Demokratische Kompetenzen entstehen dort, wo echte Beteiligung möglich ist. Selbstreflexivität als wissenschaftliches Qualitätskriterium war ein weiteres zentrales Thema der Tagung. Wie lassen sich Methoden, Formate und Tools kontextspezifisch wählen – etwa durch Methodentrainings, Testphasen oder gezielte Reflexionsräume.
Im Rahmen eines Worldcafés hatten alle Tagungsmitglieder die Gelegenheit die Arbeit der zehn GTPF-Arbeitsgruppen kennenzulernen und an den dringlichsten Fragen mitzudenken. So ging es etwa um die Fragen konkreter Gelingensbedingungen guter Forschung: Wann passen Methode und Format (nicht) zusammen? Wie lassen sich Qualitätskriterien gemeinsam mit Praxispartner*innen definieren? Und: Wann ist Forschung „gut genug“? Diese Fragen sind nur ein Ausschnitt der aktuell diskutierten Themen, zeigen aber auf, was die GTPF auszeichnet: Eine Struktur aus zehn Arbeitsgruppen, die mit Themen wie Qualitätssicherung, Institutionalisierung, Wirkung, Methodenkombinationen, Ausbildung und Forschungspolitik und vielen weiteren das Rückgrat der Community bildet. Über die Hälfte der Vereinsmitglieder engagieren sich aktiv in diesen Gruppen. Sie leben die GTPF – und machen sie zu dem, was sie ist: Ein lernendes, wachsendes Netzwerk mit dem Anspruch, die Wissenschaftskultur zu verändern.
Impulsgeber für die Entstehung dieses Netzwerks war die Plattform tdAcademy, initiiert von Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE), Zentrum Technik und Gesellschaft (ZTG) der Technischen Universität Berlin, Öko-Institut und Leuphana und gefördert von der Robert Bosch Stiftung. Nach dieser Tagung geht es weiter – die Community wächst, öffnet sich für neue Themen, integriert internationale Perspektiven etwa über die Global Alliance for Inter- and Transdisciplinarity und denkt Forschung weiter – als Ermöglichungsakteurin, als Infrastruktur, als Politikfeld.
Diese erste Jahrestagung war dafür ein starkes Signal: Die Community will strukturelle Verankerung von TD und Partizipation im Wissenschaftssystem, sie will institutionalisierte Reallabore, neue Lern- und Lehrsettings, Tandem-Professuren, Mentoring-Programme, Wissenschaftspreise – kurz: ein Wissenschaftssystem, in dem transdisziplinäre und partizipative Forschung nicht mehr erklärt werden müssen, sondern selbstverständlich dazugehören. Dafür braucht es politische Anerkennung, finanzielle Unterstützung – und vor allem Menschen, die mitmachen. Menschen, die sich auf den Weg machen wollen, um Forschung in und mit der Gesellschaft neu zu denken.
Zum Abschluss der Tagung luden die Künstler*innen Hoernemann&Walbrodt ganz im Sinne des Aufbruchs zu einer performativen Reflexion, einen Gallery Walk der anderen Art. Kein Schreibzeug, keine Notizen. Den Essenzen der Worldcafés wurde durch Körper und Sinne Ausdruck verliehen. Bewegung. Zuhören. Spüren. Sein – vom Kopf in den Körper kommen.
Die GTPF lädt ein, mit ihr zu wachsen, mitzudenken, mitzuforschen und Gesellschaft mitzugestalten. Ob als institutionelles Fördermitglied oder als engagierte Einzelperson aus Wissenschaft, Bildung oder Praxis – die Türen stehen offen. Es braucht Menschen, die Vernetzung leben, Selbstreflexion ernst nehmen und Verantwortung übernehmen wollen, besonders, wenn die nächsten Staatssekretäre des BMBF nicht so viel Wertschätzung für transformative und partizipative Forschung haben sollten, wie die jetzigen.
Das RIFS unterstützt die GTPF als institutionelles Mitglied. RIFS Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Forschungskontexten bringen sich aktiv in die Arbeit der Fachgesellschaft und ihrer Arbeitsgruppen ein. Die Veranstaltung war eine große Bereicherung für die drei Autor*innen dieses Blogartikels, da die gewonnenen Erkenntnisse in ihren gemeinsamen Forschungsbereich „Weiterentwicklung von Transdisziplinarität und Ko-Kreation“ eingebracht werden können.