Der arktische Kreis – ein Bericht aus Reykjavik
05.11.2015
Letzte Woche konnte ich in Reykjavik am Arctic Circle 2015 teilnehmen, einer großen Versammlung, die Wissenschaftler und Politiker sowie Vertreter von Zivilgesellschaft, zwischenstaatlichen Organisationen und Industrie zusammenführt (mein Kurzfilm gibt einen Eindruck von der Veranstaltung).
https://www.youtube.com/watch?v=PDkhMU78niQ
Die Versammlung, die auf die Initiative des isländischen Präsidenten Ólafur Ragnar Grímsson zurückgeht, soll als Plattform für eine verstärkte Teilnahme am arktischen Dialog dienen und die internationale Aufmerksamkeit auf die Zukunft der Region lenken. Das IASS nahm die Einladung an und veranstaltete gemeinsam mit dem Alfred-Wegener-Institut und der Universität Leeds eine Break-Out-Session zum Thema „Partnerschaftliche Ansätze bei Nachhaltigkeitsproblemen“; von den Teilnehmern wurden hier einige provokative, aber höchst relevante Punkte vorgebracht. Aus der lebhaften Debatte nach dem Arbeitskreis nahm ich neue Gesichtspunkte und Sichtweisen mit nach Hause, die ich mir auf dem Rückflug und in den folgenden Tagen durch den Kopf gehen ließ.
Nach meiner bisherigen Arbeit zu Fragen der Öl- und Gasförderung in der Arktis, mit begrenztem Kontakt zu Akteuren, lernte ich bei dem Ereignis einige der zahlreichen verschiedenen Rechteinhaber und Anspruchsberechtigten mit ihren unterschiedlichen Interessen in der Arktis kennen. Mit ihnen werde ich mich im Rahmen meiner neuen Aufgaben in der SMART-Gruppe (Sustainable Modes of Arctic Resource-driven Transformations) näher beschäftigen. Die Tatsache, dass zu dem Treffen über 1000 Teilnehmer aus 50 Ländern anreisten, und zwar sogar aus Ländern, die selbst keine Arktisanrainer sind (und teilweise nicht einmal in der Nähe liegen), bezeugt, dass die Menschen die Veränderungen in der Region und deren Auswirkungen auf das eigene Leben – vor allem im Zuge des Klimawandels aufgrund erhöhter Treibhausgas-Konzentrationen – als wichtiges Thema verstehen, das sie aufmerksam und besorgt im Auge behalten.
Ebenso auffällig war, dass die indigenen Völker der Arktis unterrepräsentiert waren, und zwar vor allem in den Arbeitskreisen. Jon Burgwald von Greenpeace vermittelte Einblicke in diese Frage und wies darauf hin, dass Großveranstaltungen häufig schwierigere und kontroverse Aspekte ausblenden wie die Selbstmordrate und psychische Erkrankungen unter Indigenen in der Arktis; Probleme, auf die Okalik Eegeesiak als Vertreter des Inuit Circumpolar Council in der Plenarsitzung einging. Die Sorge um und das Interesse an der Region ist weder unberechtigt noch verfrüht. Es mag so scheinen, als sei die Arktis weit weg, aber die südliche Grenze der arktischen Meereisdecke ist gerade einmal 3000 Kilometer von Potsdam entfernt. Und dass sich der Schwund des arktischen Meereises, eines der eindringlichsten Beispiele für den Klimawandel weltweit, in den nördlichen Regionen Europas vollzieht, sollte uns alle berühren. Um einen Eindruck von den gravierenden Veränderungen der Arktis und der Meereisdecke in den vergangenen Jahrzehnten zu vermitteln:
- Die Meereisdicke ist innerhalb von 50 Jahren auf die Hälfte geschrumpft, und die minimale Ausdehnung des arktischen Meereises zum Ende des Sommers hat seit 1979 um 50 Prozent abgenommen.
- Tauende Permafrostböden setzen zusätzliche Treibhausgase frei und beschleunigen die globale Erwärmung. Experten vom Alfred-Wegener-Institut schätzen, dass Permafrostböden etwa 1300 bis 1600 Milliarden Tonnen Kohlenstoff binden (im Vergleich dazu enthält unsere Atmosphäre derzeit etwa 800 Milliarden Tonnen Kohlenstoff).
- Die Erosion der arktischen Küsten schreitet aufgrund von Meereisschwund, höheren Wassertemperaturen und steigenden Meeresspiegeln voran. Schätzungen zufolge geht jährlich ein halber Meter der arktischen Küste verloren, sodass Stürme größere Wellen hervorbringen, die wiederum zum Schwinden der Permafrostböden beitragen (AWI Factsheet, September 2015).
Bei der Konferenz wurde zudem hervorgehoben, dass die Zukunft der Erde mit der Zukunft der Arktis verknüpft ist. Als relativer Neuling in der arktischen Familie wurde mir klar, dass zur Vielschichtigkeit der Arktis ein komplizierter Tanz der vielen verschiedenen Akteure und Rechteinhaber ebenso gehört, wie die Integration unterschiedlicher Wissensbereiche (traditionell und wissenschaftlich) sowie Fragen der Finanzierung, der Innovation und der ordnungsgemäßen Verwaltung. Carter Roberts vom WWF präsentierte im Eröffnungsplenum mit direkten, schlichten Worten das Konzept des natürlichen Kapitals, das die Entwicklung lenkt, und die Notwendigkeit, Chancen für das Finanzkapital mit Kenntnis des natürlichen Kapitals zu suchen.
Man kann behaupten, dass mir seit meiner Rückkehr von der Konferenz die Arktis nicht mehr aus dem Kopf geht. Das Bild auf dem Plakat, das für die „Circum-Arctic Art Show“ wirbt (siehe oben), die in der Ingólfsstræti nur 300 Meter vom Konferenzzentrum entfernt stattfand, ist mir unvergesslich geblieben. Das Plakat zeigt ein rotwangiges indigenes Kind, vielleicht zwei oder drei Jahre alt, das im Schnee steht und etwas trägt, das wie eine viel zu große Erwachsenenjacke aussieht, sodass man seine Beine nicht sieht. Der Kleine wirkt stark, lieb und glücklich. Vielleicht liegt es daran, dass auch ich vor Kurzem Mutter geworden bin, aber dieses Bild hinterließ Eindruck und fasst prägnant zusammen, worum es beim Arctic Circle 2015 ging: Was tut diese Generation, um künftige Generationen vor den Folgen des Klimawandels zu schützen?
Foto: Marianne Pascale Flynn, von einem Plakat der Circum-Arctic Art Show