Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Innovationsimpulse für mehr Zukunft im Regierungsbetrieb

14.06.2018

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Prof. Dr. Patrizia Nanz

Ziehen die Bundesministerien an einem Strang? Finanzminister Olaf Scholz, Kanzlerin Angela Merkel und Kanzleramtschef Helge Braun bei der ersten Kabinettssitzung der neuen Bundesregierung nach den Wahlen 2017.
Ziehen die Bundesministerien an einem Strang? Finanzminister Olaf Scholz, Kanzlerin Angela Merkel und Kanzleramtschef Helge Braun bei der ersten Kabinettssitzung der neuen Bundesregierung nach den Wahlen 2017.

Im April 2018 hat die neue Regierung ihre Arbeit aufgenommen – mit Spannung ist abzuwarten, wie sie die großen Zukunftsfragen angeht. Kanzleramt wie Ministerien tragen eine große Verantwortung für die Gestaltung der tiefgreifenden technologischen und gesellschaftlichen Umbrüche, in denen wir uns befinden.

Damit komplexe Themen wie Digitalisierung, künstliche Intelligenz, synthetische Biologie, Demokratie-, Europa- und Grundwertekrise nicht Gefahr laufen, in Silostrukturen der Exekutive isoliert oder eindimensional, reaktiv oder kurzsichtig behandelt zu werden, braucht es innovative Organisationsformen der Problembearbeitung auch zwischen den Ministerien. Mehr denn je gilt es zu diskutieren, wie ein angemessenes „Betriebssystem“ für das Regieren im 21. Jahrhundert beschaffen sein sollte. Wir schlagen drei konkrete Bausteine vor.

„Wir erleben neue politische Zeiten mit vielfältigen Herausforderungen für Deutschland – sowohl international als auch national“ – so beginnt der Koalitionsvertrag. Als prominenteste Herausforderung in der neuen Legislaturperiode erscheint vielen die Digitalisierung. Die politische Zuständigkeit für Digitalisierung war bislang auf mehrere Ministerien verteilt und dort jeweils zu schwach verankert – das war ein zentraler Kritikpunkt in der öffentlichen Diskussion rund um die Bundestagswahl. Deshalb forderten einige Kritiker ein Digitalministerium. Doch hätte dies die Arbeit von Kernbereichen zentraler Ressorts weitgehend übernehmen müssen – von der Industrie-, Arbeits-, Verbraucher-, Stadtentwicklungs-, Sicherheits-, und Bildungs- bis hin zur Kulturpolitik. Im Koalitionsvertrag werden nun zahlreiche Kommissionen zusammen mit Wissenschaft und Gesellschaft angekündigt – doch wer führt alle Erkenntnisse zusammen und steht für deren politisch-administrative Umsetzung ein? Notwendig sei eigentlich eine „Digitalregierung“, so Ulrich Schäfer in SZ-Online am 6.3.2018.

Der prominenteste Lösungsansatz der Koalition ist die Berufung einer Staatsministerin für Digitalisierung. Das ist – um im IT-Jargon zu bleiben – ein Upgrade der Bundesregierung, ohne Zweifel. Ansonsten bleiben aber Struktur und Aufgabenverteilung der einzelnen Ministerien, Hardware und Betriebssystem des Regierens, im Wesentlichen unangetastet –  gewissermaßen eine Wartung und Lizenzverlängerung.

Die Exekutive als politisches Betriebssystem

Diese Diskussion zeigt, dass gerade bei zentralen Zukunftsfragen und den damit verbundenen Herausforderungen für politisches Handeln die Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen den Ministerien hoch bedeutsam ist. Die Exekutive bildet einen Großteil des politischen Betriebssystems und ist verantwortlich für die Definition, die Verarbeitung und die Lösung von Problemen. Dennoch verlaufen die Diskussionen um ein angemessenes Betriebssystem für das 21. Jahrhundert im Sand des politischen Alltags – man erinnere sich an Forderungen nach einem Energie-, einem Infrastruktur- und einem Migrationsministerium.

Viele Herausforderungen unserer Gesellschaft sind, jede für sich und im Zusammenwirken, hoch komplex. Zumal wenn es darum geht, sie in Zeiten wachsender Ängste vor Veränderung, zunehmender sozialer Spaltung und populistischer Strömungen zu meistern. Entwicklungen wie in der Informationstechnologie bringen radikale und grundlegende Veränderungen unserer Gesellschaften mit sich. Komplex sind die mit ihnen einhergehenden Herausforderungen, weil kurz-, mittel- und langfristige Wirkungen ineinander greifen; lokale, nationale und globale Einflüsse sich überlagern; und soziale, wirtschaftliche, technologische und ökologische Problem- und Lösungsaspekte sich dabei durchdringen. Deshalb stehen ganze Mobilitäts-, Ernährungs- und Bildungssysteme zur Disposition, nicht mehr nur Treibstoffe, Pestizide und Lernmittel.

Komplexität erfordert einen Geist der Innovation und Kooperation

Was folgt daraus für die Organisation moderner politischer Steuerungssysteme, wenn sie mit dieser Komplexität umgehen sollen? Ministerien sind zugleich Gestalter wie potentiell Betroffene einer Transformation des politischen Systems. Neben Lizenzverlängerungen und Upgrades gilt es heute dringend das Betriebssystem neu auszurichten. Politik und Verwaltung werden zukünftig anders kooperieren müssen, um nachhaltige, systemische Herangehensweisen für die anstehenden Herausforderungen entwickeln zu können. Und das nicht nur, weil komplexe Probleme sich per definitionem dadurch auszeichnen, dass sie nicht endgültig lösbar sind – sie verändern sich, während Akteure sie trotz häufig konflikthafter Perspektiven zu lösen versuchen, und mit ihnen wiederum die Akteure und die Lösungsstrategien.

Die Organisationsform der deutschen Ministerialverwaltung ist nicht angemessen für die komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, sondern folgt der Tradition des 19. –  das preußische Prinzip der Eigenständigkeit jedes Ministeriums bleibt das vermeintlich rettende Ufer angesichts unübersichtlicher Verhältnissen und Zuständigkeiten, der alles entscheidende binäre Code, der auch 150 Jahre nach Bismarck komplexe Dynamiken handhabbar erscheinen lässt.

Drei Bausteine für Innovationen

Ein erster Baustein zur Förderung moderner Komplexitätsbewältigung in Politik und Verwaltung ist eine konzertierte Aktion der Beiräte der Bundesregierung, der Akademien und der Stiftungen, ein „Science-Policy-Slam“. Die genannten Akteure sind wichtige Vordenker, Berater und Impulsgeber der Regierung – und agieren doch zumeist isoliert voneinander, in säuberlich getrennten Politikfeldern, fokussiert auf Erwartungen und Blickwinkel ihres jeweils zuständigen Ministeriums. Wäre es nicht effektiver, effizienter und schlichtweg aufschlussreicher von vornherein ganzheitlich zu denken? Wäre es nicht zielführender, wenn sich beispielsweise Gesundheits- und Sicherheitsexperten, Wirtschaftsweise, Verbraucher- und Bildungsbeiräte sowie politische Stiftungen gemeinsam mit den Dynamiken künstlicher Intelligenz befassen würden? So gebündelt könnte eine breitere informierte Debatte in der Öffentlichkeit gefördert und könnten der Regierung Handlungsoptionen mit konzertiertem und daher stärkerem Nachdruck vorgeschlagen werden. Die 2017 eingerichtete Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 hat in diesen Tagen erstmals zehn der zahlreichen wissenschaftlichen Beiräte der Bundesregierung zu einem gemeinsamen Austausch über zukünftige Herausforderungen für Politik, Gesellschaft und die wissenschaftlicher Politikberatung versammeln können – eine erfolgreiche Premiere mit großem Potenzial für stärker integriertes Wissen und Handeln.

In anderen Ländern bedient man sich kreativer Ansätze wie z.B. Zukunftskommissionen, Innovationslaboratorien, Hubs und Plattformen für die Suche nach einem neuen Betriebssystem des Regierens. Die OECD trägt gute Beispiele solcher Innovationspraxis im öffentlichen Sektor zusammen. Dies wird hierzulande noch zu wenig wahrgenommen. Die hiesige Regierungspraxis hat Nachholbedarf und sollte mehr Experimente wagen.

Ein zweiter Baustein wäre daher die Einrichtung eines regierungsinternen Ideen- und Impulsgebers für innovative Formen der Koordination, ein Government Innovation Lab. Seine Aufgabe wäre es, Verfahren wie strategische Vorausschau auf Zukunftsentwicklungen, Planspiele zu möglichen Konfliktlagen- und Entscheidungsszenarien oder gemeinsames Faktensammeln und Gestalten von Prototypen möglicher Lösungsansätze innerhalb der Ministerien zu initiieren. Auf welche Weise können mit den fachlich verantwortlichen Beamten aus Justiz-, Bau-, Wirtschafts-, Umwelt-, Verkehrs- und Arbeitsministerium systematisch Varianten von Zukunftssimulationen entworfen und durchgespielt werden, um wirtschaftliche, soziale und demokratische Chancen und Risiken z.B. einer postfossilen Stadtentwicklung zu identifizieren? Das Ziel eines solchen Government Innovation Labs wäre es, komplexe Herausforderungen im Ministerien übergreifenden Austausch aus verschiedenen Perspektiven zu verstehen und kooperativ zu bearbeiten.

Beide Bausteine adressieren, was im Wahljahr und den nachfolgenden Sondierungsrunden so dringend erforderlich war und von Vielen vermisst wurde: Zukunftsdebatten, die große, ungelöste Probleme zunächst einmal ungeschönt benennen, und die Formulierung einer Leitidee für die Politik der nächsten vier Jahre und darüber hinaus, um diesen Debatten einen Rahmen zu geben. Die von der Koalition ins Spiel gebrachte Metapher vom „neuen Aufbruch nach Europa“ weist hier in eine erste Richtung. Eine in Zeiten von globalen Ressourcen-, Kapital- und Flüchtlingsströmen konsequent weiterführende Leitidee findet sich eher nur beiläufig in der Koalitionsvereinbarung – als Referenz auf den globalen Zukunftsvertrag der „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ der UN.

Baustein 3 für eine Stärkung kohärenter, langfristiger und planetar verantwortlicher Politik wäre daher die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung mit Blick auf die globalen Wechselwirkungen systematisch und differenziert auszubauen. Bausteine 1 und 2, administrative und wissenschaftliche Kooperationsprozesse könnten bereits einiges dazu beitragen, gesellschaftliche Dialoge und Verhandlungen mit dem Ziel sektorspezifischer Nachhaltigkeitsstrategien über Wertschöpfungsketten, Nutzungskaskaden und Stoffkreisläufe zu erarbeiten (etwa im Mobilitäts-, Ernährungs- und Finanzsektor). Eine zukunftsfähige Nachhaltigkeitsstrategie braucht jedoch einen stetigen und verlässlichen Anschluss an alle wichtigen Wirtschafts- und Lebensbereiche, sollte global verantwortlich und konkret auf die Prinzipien und 17 Zielbereiche der Agenda 2030 angelegt sein.

Insgesamt gilt es, die Strukturen und Arbeitsprozesse gerade auch innerhalb der Bundesregierung für das Sondieren des Neuen und Unbekannten für eine systematische Exploration zukünftiger Entwicklungen zu öffnen. Im Koalitionsvertrag von 2013 war eine „ressortübergreifende Strategie ‚Wirksam und vorausschauend regieren‘“ vereinbart. Nach außen erkennbar umgesetzt wurde das Vorhaben nicht. Mit der neuen Abteilung „Politische Planung, Innovation und Digitalpolitik“ im Bundeskanzleramt wurde nun der Versuch unternommen, diese so dringend benötigte Vorrausetzung für eine ressortübergreifende Abstimmung einzubauen – ein weiteres Upgrade mit Potenzial.

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