Lungenärzte für mehr Luftverschmutzung? – Fragen und Antworten zur Debatte über Grenzwerte
06.02.2019
In Deutschland schlug letzte Woche eine Erklärung des Lungenarztes Dieter Köhler hohe Wellen, in der er die wissenschaftliche Grundlage für die Luftqualitätsnormen anzweifelte. Die derzeitigen EU-Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub sind nach seiner Meinung unnötig streng. Über 100 Kolleginnen und Kollegen hatten das Positionspapier unterzeichnet. Keineswegs zufällig erschien diese Stellungnahme zu einer Zeit, in der viele deutsche Städte Fahrverbote für Diesel-Pkw verhängen, weil sie den EU-Grenzwert für Stickstoffdioxid (NO2), dessen Hauptquelle Dieselfahrzeuge sind, nicht einhalten können. Dies hat auf vielen Ebenen, von der journalistischen bis zur politischen, eine Debatte angestoßen. In diesem Blog-Beitrag widmen wir uns, basierend auf unseren Fachkenntnissen auf den Gebieten Luftqualität und Gesundheitswesen, dem Thema Luftqualitätsgrenzwerte.
Wer sind hier die Experten?
Pneumologen sind Fachärzte, die einzelne Patienten mit Lungenerkrankungen behandeln. Epidemiologen beschäftigen sich hingegen mit dem Auftreten von Krankheiten in einer Gesamtbevölkerung, wobei sie toxikologische Daten und umfangreiche Gesundheitserhebungen zugrunde legen. Auf dem Gebiet der Toxikologie werden experimentelle Studien so entworfen, dass die Auswirkungen einzelner Schadstoffe auf den Körper untersucht werden können. Ein Nachteil solcher Studien ist jedoch, dass sie die chronischen Gesundheitsfolgen von Luftverschmutzung nicht erforschen können. An diesem Punkt kommt die Epidemiologie ins Spiel: Epidemiologische Studien sind darauf ausgelegt, akute, subakute und chronische Folgen von Luftverschmutzung in großen Bevölkerungsgruppen zu untersuchen. Das heißt, dass Epidemiologen – die toxikologische Studien mit einbeziehen – die maßgeblichen Experten sind, an die man sich wenden sollte, wenn es um die Bewertung von umweltbedingten Gesundheitsrisiken geht. Schließlich sucht man, wenn es um die Behandlung einer chronischen Lungenerkrankung geht, keinen Epidemiologen (oder Neurologen oder Kinderarzt) auf – und ebenso wenig wendet man sich an einen Pneumologen, um umweltbedingte Gesundheitsrisiken bewerten zu lassen. Dr. Köhler betont in seiner Erklärung, statistische Korrelationen seien nicht dasselbe wie Kausalität und Störfaktoren wie Lebensweise und Rauchen seien problematisch, wenn man die Gesundheitsfolgen von Luftschadstoffen beurteilen möchte. Aber all diese Aspekte sind auf dem Gebiet der Epidemiologie wohlbekannt und werden in epidemiologischen Studien bereits berücksichtigt.
Wichtig ist auch anzumerken, dass die Aussage eines Arztes, selbst wenn sie von 100 weiteren Ärzten unterschrieben ist, nicht so aufgefasst werden darf, als würde sie die generelle Position von Ärzten wiedergeben. Tatsächlich sind diese Ärzte in der Minderheit – die rund 100 Unterzeichner der Erklärung stellen nicht einmal 3 Prozent der 3800 Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin, die zur Unterzeichnung aufgefordert wurden. Eben diese medizinische Gesellschaft hat unlängst ein ausführliches Positionspapier veröffentlicht, das auf der Grundlage wissenschaftlicher Daten die Reduktion der Luftverschmutzung fordert.
Woher stammen die NO2-Luftqualitätsnormen überhaupt?
Luftqualitätsnormen in Deutschland und Europa beruhen auf dem Vorsorgeprinzip und sind darauf angelegt, die Gesundheit der Menschen zu schützen. Das heißt, es geht um die Gesundheit aller, auch derer, die am verletzlichsten sind – also Kinder und ältere Menschen, deren Atmungsorgane besonders sensibel sind.
Um Empfehlungen auszusprechen, was ein unter diesem Aspekt „sicheres Niveau“ darstellt, wurden von der Weltgesundheitsorganisation hunderte begutachtete wissenschaftliche Studien, vor allem aus den Gebieten der Toxikologie und der Epidemiologie, ausgewertet. Und wie lautet der wissenschaftliche Konsens? Dass NO2 ein Lungenreizstoff ist und eine Kurzzeit-Exposition Atemnot sowie Asthmaanfälle auslösen kann. Kinder tragen ein höheres Risiko für NO2-bedingte Atemwegserkrankungen, was besondere Sorge bereitet, weil wiederholte Lungeninfektionen im Kindesalter im späteren Leben zu Lungenschädigungen führen können. Studien über die Langzeitauswirkungen von NO2-Belastung haben ergeben, dass eine klare Verbindung mit der Verschlimmerung von Bronchitissymptomen bei an Asthma erkrankten Kindern, Atemwegs- und kardiovaskulären Erkrankungen, Krankenhausaufenthalten und der Gesamtsterblichkeit besteht. Es lässt sich nicht zweifelsfrei sagen, dass die Beziehung zwischen diesen Gesundheitsfolgen und einer Langzeit-Exposition kausal ist, neueste Forschungsergebnisse weisen jedoch in diese Richtung. Auch gibt es Hinweise darauf, dass NO2 selbst in Konzentrationen unterhalb der gesetzlichen Grenzwerte der Gesundheit schadet, und neue Studien werden derzeit durchgeführt, die eine Verbindung zwischen NO2 und der Zahl der Demenzerkrankungen zeigen, und zwar in Gebieten mit relativ geringer Luftverschmutzung wie der kanadischen Provinz Ontario.
Die Entscheidung über angemessene Grenzwerte für NO2 ist letztlich eine Ermessensfrage, bei der es darauf ankommt, die verfügbaren wissenschaftlichen Studien zu betrachten und das Niveau unserer Risikotoleranz festzulegen. Die deutsche und europäische Luftqualitätsnorm für NO2 von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter (µg/m3) basiert auf der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation. Die Schweiz hat einen strengeren Grenzwert von 30 µg/m3, während in den Vereinigten Staaten der Grenzwert höher liegt.
Wenn Zigaretten schädlicher sind, warum mühsam die Luftverschmutzung eindämmen?
Spielarten dieser Frage wurden in der Medienberichterstattung rund um Dr. Köhlers Erklärung, die selbst den Vergleich mit dem Rauchen zog, immer wieder aufgeworfen. Die implizite Logik geht ungefähr so: Wir rauchen nach wie vor, und das schadet unserer Gesundheit, also sollte man das Herumfahren mit Diesel-Pkw vielleicht einfach auf die Liste der ungesunden Dinge setzen, die wir gerne machen (und dann können wir diese Fahrverbote vergessen).
Ja, wenn man in Deutschland lebt, ist Rauchen schädlicher als das Einatmen der Umgebungsluft. Aber anders als Rauchen ist Luftverschmutzung keine Lifestyle-Entscheidung, sondern vielmehr eine unfreiwillige Umweltexposition. Wenn man eine Zigarette raucht, schadet man mit dieser Zigarette vor allem sich selbst (obwohl durch Passivrauchen auch die Mitmenschen darunter zu leiden haben); wenn man aber ein Auto mit fossilen Brennstoffen fährt, dann ist die ganze Stadt davon betroffen – ja sogar die ganze Welt, wenn man neben den unmittelbaren Gesundheitsschäden auch die Klimafolgen bedenkt (durch CO2-Emissionen und zusätzlich emittierte Luftschadstoffe). Auf der ersten Globalen Konferenz zum Thema Luftverschmutzung und Gesundheit der WHO im vergangenen Herbst bezeichnete Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der WHO, Luftverschmutzung als „schleichenden Gesundheitsnotstand“, nannte dieses Gesundheitsrisiko den „neuen Tabak“ und rief uns auf, diese Epidemie zu bekämpfen. Aber im Gegensatz zum Tabak reicht eine Änderung des Lebensstils auf individueller Ebene nicht aus, um uns zu schützen – und deshalb brauchen wir Luftqualitätsnormen und -vorschriften als Sicherheitsmaßnahmen. Gesundheit ist ein unveräußerliches Menschenrecht, und wir haben eine moralische und gesellschaftliche Verpflichtung, sie – und damit unsere saubere Luft – zu schützen.
Verweise und Quellen:
- WHO Fact Sheet: Ambient Air Quality and Health
- European Respiratory Society: Air Quality and Health
- Associations of long-term average concentrations of nitrogen dioxide with mortality: A report by the Committee on the Medical Effects of Air Pollutants
- Review of evidence on health aspects of air pollution – REVIHAAP project: final technical report
- Stellungnahme des Bundesumweltministeriums
- Pressedossier Stickstoffdioxid des Umweltbundesamtes