Ausbeutung von Natur in Deutschland und Südamerika: Erfahrungsaustausch mit Aktivisten über Utopien und Widerstand
28.03.2019
Gesellschaftliche Visionen entstehen heutzutage in der Regel aus praktischen Erfahrungen und dem Ausprobieren von Alternativen. Sie entwickeln sich oft im Widerstand gegen eine dominante Praxis, wie z.B. die Ausbeutung natürlicher Ressourcen oder Ideologien wie dem Entwicklungsbegriff. Im praktischen Ausprobieren wird deutlich, wie etwa eine für Natur und Menschen verträglichere Lebensweise aussehen kann und es werden Forderungen formuliert, was sich im System verändern müsste, damit diese progressiven Praktiken weite Verbreitung finden können. Dabei sind die Kontexte, die Ansätze und die Handlungsweisen radikal verschieden. Als Projekt Futurisierung von Politik hat es uns interessiert, wie ein Dialog zwischen Aktivistinnen und Aktivisten aus sehr unterschiedlichen Kontexten zum Thema Gesellschaftsvorstellungen aussehen kann und was sich aus diesem Austausch für die Entwicklung nachhaltiger Gesellschaften lernen lässt.
Hierzu veranstalten wir vom 27.2. bis 1.3.2019 die Konferenz Konkrete Utopien und Widerstand in Extraktivismusregionen, also Regionen, deren wirtschaftliche Basis wesentlich vom Abbau oder der Umwandlung fossiler Energieträger abhängt. Teilgenommen haben drei Aktivisten aus Peru, Bolivien und Ecuador, fünf Aktivistinnen und Aktivisten aus drei Initiativen aus den Braunkohlerevieren in Deutschland, sieben externe Wissenschaftlerinnen mit Expertisen für soziale Bewegungen, Utopien und Konflikte und den IASS-Projekten Futurisierung der Politik sowie Sozialer Strukturwandel und responsive Politikberatung in der Lausitz. Hinzu kamen zwei Übersetzerinnen und ein Übersetzer. Am ersten Tag der Konferenz besuchten wir die Lausitzer Braunkohleregion, um uns ein aktuelles Bild zu machen, einen gemeinsamen Bezugsrahmen zu haben und sehr unterschiedliche Menschen ins Gespräch zu bringen. Wir bekamen eine ausführliche Führung von der Lausitzer Energie AG durch den Tagebau Welzow-Süd und besuchten den Verein Eine Spinnerei e.V., deren Mitglieder sich im Braunkohleprotest sowie einer Reihe zivilgesellschaftlicher Projekte, z.B. im Kampf gegen Rechtsextremismus oder der Gründung einer freien Schule engagieren. Die anderen beiden Tage fanden am IASS statt. Hier ging es um einen Austausch über die Entstehung, Bedeutung, Lebbarkeit und Wirksamkeit von Visionen in Extraktivismusregionen.
Neben dem gemeinsamen Ausgangspunkt des Kampfes gegen Extraktivismus ergaben sich zwischen den Aktivistinnen und Aktivisten auf der Konferenz eine Reihe bemerkenswerter Verbindungen und Unterschiede, von denen einige angerissen werden sollen:
Alle Aktivistinnen und Aktivisten versuchen die eigenen Ideale bereits jetzt zu leben. Josi Kellert und Jesse Ditmar beschrieben etwa, dass sie beim Konzeptwerk Neue Ökonomie e.V. über die Verwendung akquirierter Gelder stets kollektiv und im Konsens entscheiden, Sorgearbeiten, wie z.B. das Putzen des Büros oder das Kochen des Mittagessens, selbst ausführen und bei jeder Anschaffung und Dienstleistung nach der jeweils nachhaltigsten Variante suchen. Mario Rodriguéz von Wayna Tambo – Red de la Diversidad beschrieb wirtschaftliche und politische Austausch- und Gemeinschaftsstrukturen, die im Wesentlichen unabhängig von staatlichen Strukturen und globalen Märkten funktionieren, es handelt sich um reziproke und umverteilende Austauschverhältnisse, die, je nach Kontext, verschiedene Formen von Gemeinschaftsarbeit beinhalten.
Mehrere Teilnehmende beschrieben, dass ihr visionäres Denken erst entstand, nachdem sie erlebt hatten, dass ein Engagement in den bestehende Strukturen nicht zum Erfolg führte. Marco Bazán von der Organisation terre des hommes aus Peru etwa erzählte, dass er früher davon überzeugt war, dass alle Menschen das Niveau städtischer Mittelschichten erreichen sollten. Im Laufe seiner Arbeit stellte er fest, dass dies weder für die Betroffenen selbst noch für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ein sinnvolles Ziel sein könnte. Er unterstützt nun Gemeinschaften dabei indigenes Wissen unter Zuhilfenahme moderner Technik (wieder) nutzbar zu machen. Das Engagement von Friederike Böttcher und Adrian Rinnert in Eine Spinnerei e.V. gegen einen Tagebau entstand aus dem Ärger über eine als zutiefst undemokratisch erlebte Bürgerbeteiligungsveranstaltung. Auch wenn es viele Unterschiede in den Details der Vorstellungen einer lebenswerten Zukunft gab, waren sich die Teilnehmenden darin einig, dass gegenwärtig zu viel menschlicher Austausch über Geld- und Marktbeziehungen laufe.
Das Konzept einer gesellschaftlichen Utopie als Vorstellung eines fiktiven, noch zu erschaffenden Ortes, stellte sich als nicht ganz passend heraus, um die Ansätze aus Lateinamerika zu beschreiben. Entsprechend sah Marco Bazán den Schlüssel für die Lösung vieler Gegenwartsprobleme im Rückgriff auf indigenes Wissen. Dagegen betonte Adrian Rinnert, dass diese Option in Deutschland nicht bestünde und wir nun über Generationen erst wieder einen anderen Umgang mit uns selbst und der Natur erlernen müssten. Mario Rodriguéz strich heraus, dass die Möglichkeiten, alternativ zu leben, im Jetzt vorhanden sind oder gefunden werden können. Er fand sogar, dass die Idee von Utopien wenig hilfreich ist für die Kämpfe in den Anden. Dagegen stellte Prof. Dr. Barbara Muraca heraus, dass Utopien bedeutsam sein können, weil sie es uns ermöglichen Alternativen zum hegemonialen Neoliberalismus zu erkennen. Es war bemerkenswert, dass ein Austausch auf dem Workshop trotzdem möglich war. Es zeigte sich aber auch, welche Notwendigkeit bestand, immer wieder die Perspektiven der anderen zu hören und sich Zeit zu nehmen das eigene Verstehen und Einordnen in Frage zu stellen.
Alle Aktivistinnen und Aktivisten berichteten von Repressionen, die staatliche und andere Akteure gegen sie einsetzten. Diese unterschieden sich jedoch qualitativ. Während die Aktivistinnen und Aktivisten aus Deutschland von einer unverhältnismäßigen Strafverfolgung und von der Zerstörung von Eigentum (z.B. Sprengung von Briefkästen) erzählten, berichtete Yanda Montahuano von der Nación Sapara del Ecuador – NASE von Bedrohungen für Leben und Gesundheit. Er schilderte aber auch eindrucksvoll, wie es einer recht kleinen Gruppe gelingen kann, internationale Aufmerksamkeit für den Kampf um das eigene Überleben und das der Umwelt zu erlangen.
Die Bedeutung davon, die Bedürfnisse jeder und jedes Einzelnen zu respektieren und zugleich kollektiv mit gemeinsamen Zielen aktiv zu sein, beschrieb Evelyn Linde von Ende Gelände. Sie ging auf den politischen Verständigungsprozess ein, der organisationsintern zwischen zwei Aktionen von Ende Gelände abläuft. Bei diesem reflektieren die Teilnehmenden umfassend die eigenen Erfahrungen, sie bilden sich in zahlreichen Aspekten wie etwa den Hintergründen des Kohleabbaus oder Strategien der Öffentlichkeitsarbeit fort und sie entwickeln einen neuen Konsens, der die Grundlage für die nächste Aktion bildet. So wird die Weiterentwicklung der kollektiven Utopie zum zentralen Element langfristigen Widerstandes.
Drei Tage des Austausches waren zu kurz, um so unterschiedliche Kontexte, Erfahrungen und Perspektiven kennen zu lernen. Gerade die Reflexion eigener Positionierungen und die Integration von Erfahrungs- und Überblickswissen sind im interkulturellen Kontext besondere Herausforderungen, mit denen sich das IASS als transdisziplinäres Institut auch in Zukunft weiter beschäftigen möchte.
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