Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

"Es geht darum, sanft und verbunden zu sein. Es geht darum, sich der Natur so wie sie ist hinzugeben"

02.04.2020

Damian Harrison

Damian Harrison

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Bahnhof von Wuhan wird desinfiziert
Desinfektion des Bahnhofs von Wuhan, März 2020.

Seit Ende Januar hat IASS Scholar Man Fang von Deutschland aus online als ehrenamtliche Koordinatorin für ihre Heimatstadt Wuhan Spenden organisiert und dabei geholfen, medizinische Hilfsmittel aus der ganzen Welt zu Krankenhäusern vor Ort zu transportieren. Im IASS-Blog beantwortet sie Fragen, wie unterschiedlich in Deutschland und China mit der Pandemie umgegangen wird und äußert ihre Gedanken darüber.

Wuhan-Huanghe-Turm und Changjian-Brücke nach der Schließung der gesamten Stadt, Januar 2020.
Wuhan-Huanghe-Turm und Changjian-Brücke

IASS: Man, Ihre Familie lebt in Wuhan und ist seit mehr als 50 Tagen in häuslicher Quarantäne - was war die wichtigste Erkenntnis der vergangenen Wochen, die Sie mit uns in Europa teilen möchten?

Man Fang: Die erste Lektion: Vertrauen bewirkt Wunder. In meiner Rolle als Koordinatorin war ich überrascht, wie viel Vertrauen sich zwischen Menschen entwickeln kann, wenn sie zwei Monate lang zusammenarbeiten. Die meisten Teammitglieder kannten sich vorher nicht, aber wir haben durch unsere Arbeit ein bedingungsloses Vertrauen zueinander entwickelt. Das hat Wunder möglich gemacht, so dass wir reibungslos und effektiv Aktionen durchführen konnten.

Die zweite Erkenntnis: Der kollektive Konsens ist entscheidend. Denn das unverantwortliche Handeln nur eines Einzelnen kann in der Coronavirus-Krise leicht die Sicherheit ganzer Familien und Gemeinschaften gefährden.

Die dritte Lektion: Das Gleichgewicht zwischen emotionaler Sensibilität und Rationalität zu halten. Sensibilität macht uns bewusst, was in der Welt geschieht, und lässt uns mitfühlend mit anderen umgehen, während Rationalität die Kraft ist, die uns ruhig hält und im Chaos vernünftige Entscheidungen treffen lässt. Dieses Gleichgewicht zu erreichen, ist schwierig. Wenn es um Themen wie Ernährungssicherheit oder die Verwendung von Gesichtsmasken geht, kann es schwer sein, zu erkennen, ob wir überreagieren oder ignorant sind. Die einzige Frage, die wir uns immer wieder selbst stellen müssen ist, wie wir anderen helfen können. Manchmal bedeutet dies, dass wir im Hinblick auf unsere Freiheiten und Rechte Opfer bringen müssen - oder vielleicht überdenken sollten, wie viele Nahrungsmittel wir bevorraten. Letztlich müssen wir darauf vertrauen, dass medizinische Fachkräfte und Regierungen das Beste tun, was sie können, um uns zu unterstützen.

IASS: Sie denken, dass Europa nur langsam reagiert hat - was hätten wir tun sollen, wann und warum?

M. F.: Während meine Heimatstadt Wuhan beginnt, sich von der Coronavirus-Krise zu erholen, tritt Deutschland in die Abriegelung ein. Da ich in Deutschland lebe, habe ich einen interessanten Kontrast zwischen diesen beiden Ländern erlebt. Meine Freunde in China begannen sich bereits Ende Februar Sorgen um mich zu machen und wollten wissen, ob ich Masken brauche, um mich zu schützen. Am 2. März und am 6. März schickten mir zwei Freunde aus Nizza (Frankreich) und Shanghai (China) getrennt voneinander Masken zu. Dass die Regierungen in Europa den Menschen nicht empfehlen, in der Öffentlichkeit Masken zu tragen, fanden sie überraschend.

Die Menschen in China sind sich der Ansteckungsgefahr dieses Virus, der Schwere seiner Symptome und der Tatsache bewusst, dass Patienten mit schwerem Verlauf einen schmerzhaften Tod sterben, während sie bis zu ihrem letzten Augenblick bei vollem Bewusstsein sind. Ich habe daher Anfang März beschlossen, dass ich so lange wie möglich zu Hause bleibe. Während die offiziellen Zahlen keine bestätigten Infektionen anzeigten, war die Situation aufgrund der verlängerten Inkubationszeit des Coronavirus, die zwischen drei bis 24 Tage oder sogar 27 Tage dauert, sehr unklar (Shennongjia fügt einen neuen bestätigten Fall einer neuen Lungenentzündung mit einer Inkubationszeit von bis zu 27 Tagen hinzu). Leider wurden die Menschen in Europa nicht früher darauf aufmerksam gemacht.

Es schmerzt mich, dass die Lektionen meiner Heimatstadt nicht für Europäer zugänglich sind. Es schmerzt mich auch, dass wir in Italien die gleichen Geschehnisse miterleben. So viele Menschen leiden unter dem Virus, viele Ärzte und Krankenschwestern sind infiziert, weil es keinen ausreichenden Schutz gibt.

Ich bin froh, dass die Menschen inzwischen ein besseres Bild von den Geschehnissen haben. Deutschland hat von Italien gelernt, seinem nahen Nachbarn.

Warum ist es so wichtig, dass wir alle unsere sozialen Kontakte auf ein Minimum reduzieren und einfach zu Hause bleiben? Gibt es einen Unterschied im Umgang mit älteren Menschen in Europa und China?

M.F.: Das Kniffligste am Coronavirus ist seine Unsichtbarkeit. Das Virus kann drei bis 27 Tage lang in Ihrem Körper versteckt sein, bevor Sie Symptome entwickeln. Das bedeutet, dass es in dicht besiedelten Gebieten wie Wuhan auf mehr als tausend Menschen übertragen werden kann, bevor jemand überhaupt bemerkt, dass es da ist. Aus diesem Grund riet die chinesische Regierung den Menschen schon sehr früh, Masken zu tragen. Wir gehen davon aus, dass jeder das Virus ohne Bewusstsein tragen könnte. Es ist die einzige Möglichkeit, eine weitere Ausbreitung zu vermeiden, insbesondere bei anfälligen Menschen.

Ein weiterer entscheidender Aspekt sind für mich ältere Menschen. Kulturell gesehen ist China eine Gesellschaft, die älteren Menschen höchsten Respekt entgegenbringt. Es gibt ein altes Sprichwort, das besagt: "Ein Alter in einem Zuhause ist wie der Schatz einer Familie". Es ist unerträglich, dass viele Menschen plötzlich ihre Eltern und Großeltern verlieren. In China leben die meisten alten Menschen mit ihren Kindern und Enkelkindern, was erklären könnte, warum sich so viele Menschen infiziert haben und gestorben sind. Diese Tragödie hat die Menschen in der Provinz Hubei traumatisiert. Die Menschen starben innerhalb von zwei bis drei Tagen, nachdem sie Symptome entwickelt hatten, und ihre Familien hatten nicht die Möglichkeit, sich richtig zu verabschieden. In einigen Fällen wurden ganze Familien infiziert und konnten sich nicht unterstützen, weil sie in verschiedenen Krankenhäusern, Hotels oder Wohnungen isoliert waren.

Aus meiner Sicht spiegelt die deutsche Mehrheitsgesellschaft die Stimme und die Erfahrungen junger Menschen wider. Die Medien berichten, dass Kinder keine Symptome haben und dass es meist ältere Menschen sind, die erkranken. Infolgedessen sind jüngere Menschen sehr zuversichtlich, dass ihr Immunsystem mit dem Virus umgehen kann. Wenn ich die Nachrichten aus Italien und Spanien lese, habe ich das Gefühl, dass der Verlust der Älteren in der Gesellschaft stillschweigend hingenommen wird.

Meiner Ansicht nach kommt es im Moment nicht so sehr auf die individuellen Freiheiten an, sondern vielmehr darauf, sich umeinander zu kümmern. Für die Chinesen ist die Familie ihre "Religion". Die Menschen werden für ihren eigenen Haushalt oder ihre Familienmitglieder tun, was immer sie können. Denn wenn es ein Zuhause gibt, haben wir immer einen Ort, an den wir zurückkehren können, einen Ort der Freiheit und Sicherheit. Deshalb haben Chinesen Schutzmasken aus der ganzen Welt gekauft, um ihr Land zu unterstützen. Freiheit ist die Freiheit in der Gemeinschaft oder im Netzwerk, nicht die des isolierten Individuums. Menschen können in einem Zustand reiner Freiheit kein Glück und keine Ruhe finden, ohne geerdet zu sein. Was die Menschen wünschen, ist, sich in einem Netzwerk oder einer Gruppe wohl und zugehörig zu fühlen. In diesem Sinne praktizieren die Chinesen einen anderen Seins- oder Lebensstil, bei dem das Handeln immer auf kollektiven statt auf individuellen Bedürfnissen beruht.

Die Verbreitung von Desinformationen und Mythen über das Coronavirus in den sozialen Medien hat die WHO veranlasst, gemeinsam mit Google und Facebook eine Gegeninformationskampagne zu starten. Ist in China etwas Ähnliches passiert? Oder griff die staatliche Zensur ein?

M.F.: In der Anfangsphase gab es allerlei Berichte über das Coronavirus in WeChat, der mit fast einer Milliarde Mitgliedern der größte chinesische Social Media-Kanal. Die Chinesen waren sehr beunruhigt, als sie sahen, dass lokale Regierungsorgane Informationen zurückhielten und den Eindruck erweckten, dass die Situation in Wuhan unter Kontrolle und das Virus nicht ansteckend sei. Anfang Januar bemerkte ich, dass Freunde, die in Krankenhäusern in Wuhan arbeiteten, anfingen, Masken zu tragen. Ich sah sogar bei einem Neujahrskonzert (Neujahr war in China Ende Januar 2020, Anm. der Redaktion) Menschen, die Masken trugen. Die Tatsache, dass SARS in irgendeiner Form zurückgekehrt war, machte bereits in den sozialen Medien die Runde, nachdem "Whistleblower"-Ärzte am 30. Dezember einen Patienten diagnostiziert und Freunde und Kollegen vor ihren Befunden gewarnt hatten. Dies wurde schnell allgemein bekannt. Damals sprach sogar meine Mutter mit mir am Telefon über das "Gerücht", und viele vernünftige Menschen begannen, sich vorzubereiten und vermieden Versammlungen. Jedoch erst am 20. Januar bestätigten Beamte der Zentralregierung das Risiko einer Übertragung von Mensch zu Mensch. Sehr bald danach wurde die ganze Stadt abgeriegelt.

Meiner Erfahrung nach neigen Chinesen dazu, Sachinformationen über soziale Medien zu sammeln, während sie sich in Netzwerken von vertrauenswürdigen Familienmitgliedern, Verwandten, Freunden und Kollegen weitergeben. "Offizielle" Medienkanäle spielen als Quellen zuverlässiger Informationen eine weniger bedeutende Rolle.

Informationen, die über WeChat-Netzwerke und -Gruppen gesammelt werden, untermauern auch die Arbeit unserer Selbsthilfegruppe. WeChat verbindet Tausende von Menschen (einschließlich Familienmitgliedern, Verwandten, Freunden und Kollegen usw.) und integriert alle Funktionen von Facebook, Twitter, WhatsApp, Amazon und Skype in einem einzigen Dienst, was die Kommunikation einfach und effizient macht.

Unsere Graswurzelorganisation arbeitet nach dem Prinzip "Kontakt aus erster Hand, Verbindungen aus erster Hand, Informationen aus erster Hand". Mit anderen Worten, indem wir nur Personen vorstellen, die wir kennen und denen wir vertrauen, können wir sicherstellen, dass die in der Gruppe geteilten Informationen zuverlässig sind. Dieses Prinzip aus erster Hand ermöglicht es uns, verlässliche Informationen effizienter als Nachrichtenagenturen zu sammeln. Da wir Freunde haben, die für Krankenhäuser und innerhalb der Regierung arbeiten, sind wir auch in der Lage, Insider-Informationen auszutauschen.

Ich glaube, dass Nachrichten überall auf der Welt auf viele verschiedene Arten manipuliert werden, und es ist schwierig, dieses Phänomen für ein riesiges Land wie China zusammenzufassen. Während der Coronavirus-Krise habe ich miterlebt, wie WeChat-Gruppen und -Netzwerke als dezentralisierte "Vierte Gewalt" agierten. Das Internet und die Digitalisierung unterstützen die Entwicklung der chinesischen Demokratie enorm. Die Menschen waren von den offiziellen Nachrichtenkanälen enttäuscht, weil die Anfangsphase so gehandhabt wurde. Folglich vertrauen die Menschen "Meinungsführern" wie der in Wuhan lebenden Autorin Fang mehr. Sie schreibt ein öffentliches Tagebuch über die Krise und teilt wichtige Informationen mit der Außenwelt.

Die Kommunalverwaltung hat erkannt, dass es heutzutage unmöglich ist, etwas zu verbergen. Sie müssen lernen, mit den sozialen Massenmedien zu kooperieren, anstatt sie zu blockieren. Dies wird für einige konservative und unterentwickelte Regionen eine Herausforderung sein, aber die Kommunalverwaltungen in Großstädten wie Shanghai und Guangzhou sind für Bürger bereits offener und transparenter.

Die IASS-Forschung zielt darauf ab, breit angelegte Transformationen zu nachhaltigeren Gesellschaften zu unterstützen. Ist Nachhaltigkeit ein Thema für die Menschen in Ihrem Heimatland?  

M.F.: Viele meiner Freunde zeigen die Videos mit Tieren, welche in die Städte zurückkehren und auf den leeren Straßen umherwandern oder wie Menschen durch Vogelgezwitscher geweckt werden, weil Ruhe wieder eingekehrt ist usw. Es sind berührende Momente in einer so schwierigen Zeit, die uns daran erinnern, das einfache Glück in unserem Leben zu schätzen. Es ist eine plötzliche und strenge Pause für die ganze Gesellschaft, während es zugleich diese freundliche Mahnung gibt, unsere Art des Seins zu reflektieren.

Es gibt viele Phänomene, die mir zeigen, dass Menschen aufgrund der Katastrophe ihre Verhaltensmuster ändern möchten, aber ich bin mir nicht sicher, wie weit dies gehen wird. Schauen wir mal.

Im Moment sind Provinz und Städte noch dabei, die Notfälle zu verarbeiten und sich von dieser Situation zu erholen. Der Schwerpunkt liegt nach wie vor darauf, Leben zu retten und das Leben wieder auf den normalen Weg zu bringen. Es gibt noch viel Trauer zu bewältigen. All dies braucht Zeit.

Im Moment betreue ich eine Freiwilligengruppe, die durch die Krise traumatisierte Bürger, psychologisch unterstützt. Ich erlebe großes Leid und Trauer mit all diesen Freiwilligen. Wir haben erkannt, dass die Traurigkeit bei jedem Einzelnen in unserer ganzen Gesellschaft nachklingt, inzwischen aber auch im Zustand der Erde. Wir teilen das Leid so, wie auch unser Planet leidet.

Was wir aus der Krise lernen könnten: Das Leiden zu spüren und zuzugeben, dass wir verletzlich sind, dass wir Hilfe brauchen. Es ist das Mitgefühl von uns selbst gegenüber anderen, und auch das Mitgefühl von Menschen gegenüber allen Arten auf der Welt, und auch das Mitgefühl von Lebewesen gegenüber unserem Planeten.

Die Verwundbarkeit zeigt sich jetzt, nachdem wir fast zwei Monate ums Überleben gekämpft haben. In unserer Reflexion haben wir erkennen können, dass das Virus hilft, dies anzunehmen und wir wachsen, wenn wir diese Verwundbarkeit anerkennen. Aufgrund der offensichtlichen Verletzlichkeit sind wir alle miteinander verbunden, fühlen uns in der Gruppe und in der Gemeinschaft sicher.

Wir sind tief in der Stimmung der Traurigkeit und Hilflosigkeit genau wie unsere Erde. Es könnte eine weitere Erleuchtung für unsere Welt sein, dass wir uns der Geschehnisse bewusst sind und auf alle Herausforderungen mitfühlend reagieren.

Es geht nicht um Macht. Es geht nicht darum, zu gewinnen. Es geht nicht darum, zu kämpfen.

Es geht darum, sanft zu sein. Es geht darum, verbunden zu sein und sich der Natur so wie sie ist hinzugeben.

 Was möchten Sie noch über das Coronavirus sagen?

M.F.: In einem kürzlich durchgeführten deutsch-chinesischen Online-Dialog haben wir festgestellt, dass diese Krise, das Coronavirus, auf unterschiedliche Weise Veränderungen bewirken wird: Die Chinesen beginnen damit, als Weltbürger Verantwortung zu übernehmen und wirken aktiv an Freiwilligeneinsätzen mit. Für die Menschen in Wuhan war die offizielle Erklärung zum Coronavirus zu einem frühen Zeitpunkt zweideutig und abwesend, und gleichzeitig, während alle Krankenhäuser von den Patienten überwältigt wurden, begannen sowohl Bürger als auch Personal in den Krankenhäusern, um Hilfe von außen zu bitten, was eine große Veränderung ist. Die Menschen haben gelernt, dass wir uns nicht völlig auf die Regierung verlassen können, sondern wir müssen selbst Initiative ergreifen.  

Viele Chinesen haben darauf gewartet, dass die deutsche Regierung in der Frühphase der Pandemie schneller handelt. Jetzt wissen viele Chinesen und ich selbst zu schätzen, dass die deutsche Regierung von sanften Vorschlägen für bestimmte Maßnahmen zu immer stärkeren Maßnahmen übergegangen ist. Indem ich dies miterlebt habe, habe ich gelernt, wie wichtig es hierzulande ist, geduldig genug zu sein, bis die meisten Bürgerinnen und Bürger die potenzielle Gefahr erkannt haben und den Maßnahmen der Regierung zustimmen, da sie sonst auf zu starke Kritik und Widerstand stoßen würde.

Aus meiner Sicht opfert die deutsche Gesellschaft Effizienz für den gesellschaftlichen Konsens, während die Chinesen einige Freiheiten für die Sicherheit opfern. Ich glaube, beide Länder können in dieser Krise viel voneinander lernen.

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