Vertieft die Pandemie die globale digitale Kluft?
21.04.2020
Arbeitnehmer*innen ziehen ins Homeoffice um, Freund*innen treffen sich virtuell in Video-Konferenzen, der Onlinehandel boomt und Tracing-Apps sollen Infektionsketten nachverfolgen: Viele Länder erleben im Zuge der Corona-Pandemie einen Digitalisierungsschub. Gerade Entwicklungs- und Schwellenländer könnten jedoch in ihren Bemühungen für die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zurückgeworfen werden. Umso mehr gilt es nun, die Versäumnisse bei der Gestaltung einer global gerechten Digitalisierung nachzuholen.
In vielen Entwicklungs- und Schwellenländern wurden in den letzten Jahrzehnten wichtige Etappen im Bereich der Armutsbekämpfung, der Gesundheitsvorsorge, des Zugangs zu Wasser und Strom und der wirtschaftlichen Entwicklung gemeistert. In Folge der Corona-Pandemie, warnt Achim Steiner, Leiter des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP), könnte nun in manchen Ländern ein Jahrzehnt an Entwicklungsfortschritt vernichtet werden.
Damit besteht auch die Gefahr, dass sich die wirtschaftliche und technologische Kluft zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern weiter vergrößert – vor allem mit Blick auf die Digitalisierung. Viele Länder des Globalen Südens haben in den letzten zwei Jahrzehnten verstärkt Anstrengungen unternommen, um die Möglichkeiten und Fähigkeiten ihrer Bürgerinnen und Bürger zur Teilhabe am digitalen Wandel zu verbessern, die Digitalisierung in Wirtschaft und Verwaltung voranzubringen und ein neues technologieaffines Unternehmertum zu fördern. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie könnten den Fortgang dieser Bemühungen nun gefährden und den langfristigen Handlungsspielraum vieler Länder zur Erreichung ihrer digitalen Entwicklungsziele verengen.
Fehlende Investitionen verlangsamen digitale Entwicklung
Die Gesundheitskrise stellt viele Länder des Globalen Südens vor große finanzielle Schwierigkeiten. Darüber hinaus drohen ihnen ein schwerer wirtschaftlicher Abschwung und eine neue Schuldenkrise. Damit könnten Investitionen in Infrastrukturen und den Bildungssektor zurückgehen. Auch die Schaffung regulativer Rahmenbedingungen, die den digitalen Wandel von Wirtschaft und Gesellschaften unterstützen, könnte im Corona-Krisenmodus zu kurz kommen. Zwar haben kürzlich die 20 größten Industrie- und Schwellenländer (G20) sowie zahlreiche private Kreditgeber zugestimmt, dass die ärmsten Länder bis zum Ende des Jahres ihren Schuldendienst aussetzen können. Zudem hat die Weltbank angekündigt, bis zu 160 Mrd. US-Dollar bereitzustellen, um Entwicklungs- und Schwellenländer bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu unterstützen. Allerdings wird vielfach Kritik geäußert, dass diese Maßnahmen zwar Erleichterungen, jedoch auch neue Schulden mit sich bringen und bei Weitem nicht ausreichen.
Viele Startups und Unternehmen der Digitalwirtschaft werden in den Ländern des Globalen Südens nun vor großen Herausforderungen stehen, Investoren zu gewinnen und finanzielle Hilfen zu erhalten. Im März dieses Jahres wurde bereits mehr Kapital aus Ländern des Globalen Südens abgezogen als während der Finanzkrise 2008. Durch die Krise verschlechtert sich zudem das allgemeine wirtschaftliche Umfeld – ganz davon abgesehen, dass die Unternehmen und ihre Mitarbeiter*innen auch direkt von Ausgangssperren und -beschränkungen sowie Versorgungsengpässen und der Gefahr einer Infektion mit dem neuen Corona-Virus betroffen sind.
Globale Ungleichheiten verstärken sich
Vor diesem Hintergrund wird für viele Länder des Globalen Südens eine Teilhabe an der „digitalen Dividende“ in Form von Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätzen und verbesserten Dienstleistungen durch die Digitalisierung – die ohnehin für sie bisher eher mager ausgefallen ist – zusehends erschwert. Hinzu kommt, dass sich die Ungleichgewichte in der globalen Digitalwirtschaft weiter zugunsten der „Big Player“ verschieben könnten. Bereits vor der Corona-Pandemie wurde die Dominanz US-amerikanischer und chinesischer Digital-Unternehmen von vielen staatlichen, privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren im Globalen Norden und Süden kritisiert. Nun zeigt sich, dass gerade Plattformunternehmen wie Amazon, Google, Facebook und Netflix dank der gestiegenen Nutzung von Online-Angeboten zu den Gewinnern der Corona-Pandemie zählen könnten. Es ist davon auszugehen, dass kleinere, dezentrale Online-Angebote es damit noch schwerer haben werden, sich erfolgreich zu etablieren.
Zudem könnte diese Entwicklung die Position der Europäischen Union, der USA und anderer Länder stärken, die sich für einen möglichst unbeschränkten weltweiten Handel mit elektronisch übertragbaren Gütern einsetzen. Schon seit längerem besteht auf Ebene der Welthandelsorganisation (WTO) ein Disput zwischen ihnen und einer Reihe anderer Länder – allen voran Indien und Südafrika – die sich für Regelungen des weltweiten digitalen Handels aussprechen, die ihnen Zölle auf digitale Produkte und einen besseren Schutz ihrer heimischen Digitalwirtschaft erlauben. Auf der Agenda der nächsten WTO-Ministerkonferenz hätte daher der weitere Umgang mit einem seit 1998 bestehenden Moratorium für Zölle auf elektronisch übertragbare Güter gestanden. Das ursprünglich für Juni 2020 geplante Treffen wurde jedoch aufgrund der Corona-Pandemie bis auf weiteres verschoben. Damit ist der Fortbestand des Moratoriums ungewiss, wenngleich Beobachter von einer Verlängerung ausgehen. Auch wenn die Linien mit Blick auf die Zukunft des digitalen Handels nicht entlang des klassischen Nord-Süd-Schemas verlaufen, steht für viele Entwicklungsländer einiges auf dem Spiel: In einer Studie errechnete die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) im letzten Jahr, dass den Entwicklungsländern durch das bestehende Moratorium je nach Szenario jährlich zwischen 5 und 10 Mrd. US-Dollar entgehen.
Eine gerechtere Digitalisierung ist möglich
Damit sich die digitale Kluft zwischen Industrie-, Entwicklungs- und Schwellenländern im Zuge der Corona-Pandemie nicht weiter vertieft, ist daher zweierlei nötig: Zum einen braucht es eine beherzte finanzielle Unterstützung der Länder des Globalen Südens bei der Bewältigung der akuten Gesundheitskrise durch SARS-CoV2 und den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Dabei sollten Projekte für Infrastrukturausbau, Bildung und Unternehmensförderung für den digitalen Wandel nicht außen vor bleiben. Zudem sollten diese konsequent an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen ausgerichtet werden. Gleichzeitig braucht es jedoch faire Regeln für die Digitalwirtschaft und den globalen digitalen Handel. Hier sollten die Interessen und Bedenken von Entwicklungsländern berücksichtigt werden, um ihnen langfristig eine gerechte Teilhabe an den Chancen der Digitalisierung zu ermöglichen.