Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Krisenfester mit sauberer Luft: Wie die Pandemie ein vernachlässigtes Thema in den Fokus rückt

09.06.2020

Kathleen A. Mar

Dr. Kathleen A. Mar

kathleen [dot] mar [at] rifs-potsdam [dot] de
Dr. Erika von Schneidemesser

Dr. Erika von Schneidemesser

erika [dot] von [dot] schneidemesser [at] rifs-potsdam [dot] de
Luftverschmutzung könnte zu schweren Verläufen einer Covid-19-Erkrankung beitragen.
Luftverschmutzung könnte zu schweren Verläufen einer Covid-19-Erkrankung beitragen.

Neue Studien geben Hinweise darauf, dass Luftverschmutzung zu schweren Verläufen einer Covid-19-Erkrankung beitragen kann. Für die Bundesregierung sollte das Grund genug sein, sich stärker für die Luftreinhaltung zu engagieren – auch, indem sie ihr einen prominenten Platz in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2020 einräumt.

Luftverschmutzung macht in Deutschland nur gelegentlich Schlagzeilen. Vor der Corona-Pandemie entstand zuletzt Anfang 2019 ein Medienrummel um das Thema, als ein Arzt im Ruhestand im Fernsehen erklärte, er habe noch nie einen Patienten an Luftverschmutzung sterben sehen. Für die geltenden Grenzwerte zum Schutz der öffentlichen Gesundheit in Deutschland und der EU gebe es keine wissenschaftliche Grundlage. Obwohl diese Behauptung von zahlreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern rasch widerlegt wurde, forderte der Bundesverkehrsminister die Europäische Kommission auf zu überprüfen, ob die geltenden Grenzwerte für Luftschadstoffe womöglich zu streng seien.

Natürlich gibt es in Deutschland Gesetze und Programme zur Luftreinhaltung, doch auf der Prioritätenliste der Regierung rangieren sie nicht an oberster Stelle. So hat die Politik auch nur halbherzig auf den Diesel-Emissionsskandal und auf Überschreitungen des Stickoxid-Grenzwertes reagiert.

Luftverschmutzung als Risikofaktor für Covid-19-Sterblichkeitsrate?

Im Zuge der Covid-19-Pandemie ist Luftverschmutzung plötzlich wieder ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt – nicht nur, weil die Shutdowns auf der ganzen Welt die Emissionen reduziert und vorübergehend für einen klaren Himmel gesorgt haben, sondern auch, weil Regionen mit schwerer Luftverschmutzung höhere Sterblichkeitsraten bei Covid-19 aufweisen. Bekannte Beispiele dafür sind Wuhan in Zentralchina und die Poebene in Norditalien, ein Hotspot der Luftverschmutzung in Europa. In einem Preprint der bisher umfassendsten Studie über die Zusammenhänge zwischen Luftverschmutzung und Covid-19-Mortalität stellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Harvard T.H. Chan School of Public Health fest, dass ein Anstieg der Feinstaubpartikel (PM2,5) um nur 1 µg/m³ mit einem Anstieg der durch Covid-19 verursachten Todesrate um 8 % einhergeht, auch in vergleichsweise wenig verschmutzten Regionen.

Zur Einordnung: Der EU-Grenzwert liegt bei 25 µg/m³ als Jahresmittelwert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt noch niedrigere Grenzwerte, um die Gesundheit zu schützen: Demnach sollte der Jahresmittelwert für Feinstaub unter 10 µg/m³, der 24-Stunden-Mittelwert [1] bei 25µg/m³ liegen. Zahlen des Umweltbundesamtes zeigen, dass es in Deutschland noch viel Raum für Verbesserungen gibt. So wurde im Jahr 2019 an mehr als der Hälfte der deutschen Messstationen die WHO-Richtlinie für PM2,5 im Jahresmittel und an fast allen Stationen (98 %) die Richtlinie für Kurzzeitexposition überschritten.

Eine Reduzierung der PM2,5-Belastung in Deutschland auf die von der WHO als sicher eingestuften Werte würde die Inzidenz von Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen senken. Der allgemeine Gesundheitszustand der Bevölkerung  würde verbessert, die Resilienz angesichts der nächsten Pandemie erhöht. 

IASS untersucht Rolle der Luftverschmutzung in der Pandemie

Die Forschung zu den Zusammenhängen zwischen der Belastung durch Luftverschmutzung und dem Schweregrad des Covid-19-Verlaufs steckt noch in den Kinderschuhen, so dass wir die ersten Ergebnisse mit Vorsicht behandeln sollten. Nichtsdestotrotz ist es nicht überraschend, dass schlechte Prognosen mit der Belastung durch Luftschadstoffe zusammenhängen. Es gilt als gesichert, dass eine langfristige PM2,5-Exposition ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf- und Lungenkrankheiten ist, und es wurde bereits nachgewiesen, dass eine PM2,5-Exposition mit einem erhöhten Risiko für schwere Folgen anderer infektiöser Atemwegserkrankungen wie Grippe, Lungenentzündung und SARS verbunden ist.

Im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Charité - Universitätsmedizin Berlin trägt das IASS zur Erforschung der Auswirkungen von Luftverschmutzung auf die menschliche Gesundheit sowohl im Kontext dieser Pandemie als auch zu weiter gefassten Fragestellungen bei. Darüber hinaus begreift das IASS die Covid-bezogenen Emissionsminderungen als Chance, aus einem Realexperiment zu lernen. Dabei verwenden die Forscherinnen und Forscher Daten, die unter diesen außergewöhnlichen Umständen gesammelt wurden, um Modelle, die für politische Entscheidungen häufig herangezogen werden, zu überprüfen und zu verbessern.

Saubere Luft erfordert politischen Willen

Es gibt gute Gründe zu überprüfen, ob das deutsche Engagement für saubere Luft deren wahren Wert widerspiegelt: Zum einen mehren sich die Belege, dass Luftverschmutzung die Wahrscheinlichkeit eines schweren Covid-19-Verlaufs erhöht, zum anderen steigt das Bewusstsein der Bevölkerung für die schädlichen Auswirkungen von Luftverschmutzung wieder. 

Todesfälle aufgrund von Covid-19 werden immer eine stärkere persönliche Betroffenheit auslösen als die diffusere Bedrohung durch Luftverschmutzung. Trotzdem sollten wir uns ins Gedächtnis rufen, dass die Belastung der Außenluft laut epidemiologischen Studien jedes Jahr weltweit zu mehr als 4 Millionen vorzeitigen Todesfällen beiträgt. Eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für Chemie schätzt, dass die Luftverschmutzung in Europa jährlich zu einer Übersterblichkeit von 790.000 Menschen führt; 154.000 dieser Übersterblichkeitsfälle [2] sind in Deutschland zu verzeichnen. In derselben Studie wurde geschätzt, dass die Luftverschmutzung die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa um 2,2 Jahre verringert (Deutschland: 2,4 Jahre).

EEA

Saubere Luft ist unverzichtbar für eine gesunde Gesellschaft und verdient einen prominenteren Platz in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, in der es wichtige Anknüpfungspunkte zu den thematischen Schwerpunkten Mobilität und Klima gibt. Insbesondere sollte die Strategie einen Mobilitätswandel stärker unterstützen, der wegführt von dem gegenwärtigen Fokus auf Autos, hin zu sauberer Luft und mehr Klimaschutz. Auf europäischer Ebene sollte Deutschland auf die Übernahme der WHO-Luftqualitätsrichtlinien als EU-Grenzwerte dringen. Dies würde eine deutliche Steigerung der Ambitionen für die Luftreinhaltung bedeuten und könnte so gestaltet werden, dass ein erheblicher Zusatznutzen für das Klima erzielt wird.

Wissenschaft, Politik und Gesellschaft sollten ein gemeinsames Leitbild von einer lebenswerten Zukunft entwickeln

Die Wissenschaft sollte einen stärkeren Fokus auf die Schnittstelle von Gesundheit, Luftqualität und Klima legen und dabei in besonderem Maße Interdependenzen und Synergien berücksichtigen. Wenn zum Beispiel die Emissionen und ihre Quellen auf lokaler Ebene besser erfasst werden, können Luftqualitätsmodelle mehr Ergebnisse liefern, die nicht nur für das wissenschaftliche Verständnis, sondern auch für die politische Entscheidungsfindung nützlich sind. Inter- und Transdisziplinarität sollten ein integraler Bestandteil der wissenschaftlichen Arbeit in diesem Bereich sein. Zentral ist dabei die Beteiligung der Öffentlichkeit: Sie muss eingebunden werden in die Diskussion über neue und kreative Konzepte für die Räume, in denen wir leben und arbeiten, über unsere Mobilitätsbedürfnisse und -präferenzen und darüber, wie diese Entscheidungen mit unserer physischen und psychischen Gesundheit zusammenhängen. Tatsächlich hat die Coronakrise deutlich gemacht, dass wie wichtig der Beitrag der Zivilgesellschaft, aber auch eines gut funktionierenden Austausches zwischen Wissenschaft und Politik zur Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen ist. Die Entwicklung der erforderlichen Kommunikationskompetenzen (manchmal auch als „Outreach“- oder „Transfer“-Aktivitäten bezeichnet) unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verdient ebenfalls mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung, nicht nur in Krisenzeiten.

 

[1] Dieser Wert sollte an nicht mehr als drei Tagen pro Jahr überschritten werden.

[2] Die Zahl der Todesfälle, die unter den beobachteten Bedingungen erhöhter Luftverschmutzung auftraten, verglichen mit dem, was bei Einhaltung der Grenzwerte zu erwarten gewesen wäre.

 

Dieser Text wurde als Beitrag zur Online-Konsultation: Nachhaltig aus der Corona-Krise von der Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 eingereicht.

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