Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Max Regers Salami-Berge und die Nachhaltigkeit

14.11.2020

Katharina Beyerl

Dr. Katharina Beyerl

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Weltrettung im Alltagsstress? Ohne nachhaltige Infrastrukturen und Angebote kaum machbar!
Weltrettung im Alltagsstress? Ohne nachhaltige Infrastrukturen und Angebote kaum machbar!

Gedanken nach einem Gespräch bei der SWR2 Matinee

Was machte der rastlose Komponist Max Reger, dem wegen Überarbeitung, Übergewicht und Erschöpfung 1914 eine Kur mit Komponierverbot und Diät verordnet wurde? Er verlangte in der Kur wohl sogleich nach Notenpapier und hortete Salami-Berge unter seinem Bett. So half dann auch die Kur nicht viel und der Komponist starb bereits zwei Jahre später im Alter von nur 43 Jahren. Diese Anekdote erzählte Jörg Biesler, Radio-Moderator der SWR2-Matinee zum Thema „Weitermachen“, in der Abmoderation eines Musikstücks von Reger zur Überleitung zu unserem Gespräch zu Nachhaltigkeit und Umweltpsychologie. Warum es uns so schwerfällt, trotz besseren Wissens Routinen zu durchbrechen, ist natürlich besonders angesichts von Klimawandel, Artensterben, und anderen Aspekten der sozio-ökologischen Krise immer wieder eine zentrale Frage.

Max Reger
Max Reger

Weltrettung auf dem Gemüseacker?

Ähnlich wie Reger seinen Körper mit zu viel Arbeit, Essen und Alkohol überstrapazierte und in einen physischen Zusammenbruch manövrierte, gehen wir mit uns und der Welt um. Auch wir wissen um die eigentlich notwendige Kur. Um die sozio-ökologische Krise noch aufzuhalten, hat sich mittlerweile mehr oder weniger herumgesprochen, dass wir möglichst nicht fliegen oder mit dem Auto fahren sollten, sondern vegetarisch oder vegan leben, auf Plastikverpackungen verzichten, verantwortungsvoll produzierte Produkte und schadstofffreie Textilien aus Naturmaterialien nutzen sollten. Und das am besten alles zwischen Morgenmeditation und Abend-Yoga-Kurs, liebevoll und achtsam selbst angebaut, genäht, repariert, gebraucht erworben oder geliehen. Fertig ist der nachhaltige Lebensstil und die Welt könnte vielleicht gerade so noch gerettet werden. Nur, wer will und kann das alles immer leisten und erfüllen? Tatsächlich leben so aktuell wahrscheinlich mehr Menschen auf der Welt als man im ersten Moment denkt, nur ist das weniger selbst gewählt wie im globalen Norden, sondern den Menschen im globalen Süden auch durch unser Verhalten und unseren Konsum quasi auferlegt. Aber warum ist es für uns hier, wo es darauf ankommt, so schwer, unseren Lebensstil, der uns und die Welt überstrapaziert, umzustellen?

Einerseits lassen wir uns im Leben vielfach von Gewohnheiten leiten. Diese reduzieren die Komplexität im Alltag erheblich, so dass wir nicht bei jeder Entscheidung bewusst darüber nachdenken müssen, was wir wie am besten tun. Gewohnheiten haben sich etabliert, weil sie meist funktionieren. Oft werden sie uns erst bewusst, wenn etwas nicht klappt, sie über die Zeit nicht mehr zum gewünschten Ergebnis führen oder unerwünschte Nebenwirkungen haben. Würden wir unsere Gewohnheiten prüfen, müssten wir bei vielem feststellen, dass das, was wir jeden Tag so tun, nicht unbedingt sehr nachhaltig ist.

Andererseits leben wir inmitten eines riesigen Angebots an Waren und Dienstleistungen. Leider sind diese aber allzu oft auch nicht nachhaltig und in den Preisen sind meist nicht die wahren sozial-ökologischen Kosten enthalten, welche die Allgemeinheit aber dennoch in Form von Klimawandel, Artensterben, schadstoffbelasteten Ökosystemen und wachsender sozialer Ungleichheit tragen muss. Aktuell ist es im globalen Norden – also hier bei uns in Deutschland – leider einfacher, sich nicht nachhaltig zu verhalten als umgekehrt.

Nachhaltigkeit im Alltagsstress?

Man ist froh, wenn man eine Arbeit hat, mit der man finanziell auch in Pandemiezeiten über die Runden kommt. Dafür fahren viele Menschen mit dem Auto kilometerweit zur Arbeitsstätte, stehen in Staus, um abgehetzt und müde noch durch den Discounter zu flitzen und in Einwegplastik verpackte Dinge zu kaufen, von denen wir eigentlich wissen, dass sie nur bedingt gut für uns sind. Der nächste Bio- oder Unverpacktladen ist weit weg, so dass der Besuch eher ein Erlebnis ist als (bezahlbarer) Standard. Und ein eigener Garten oder eine Solaranlage auf dem Dach eines Mietshauses in der Stadt mag ein kühner und unerfüllbar scheinender Traum so manchen Mieters sein.

Im Versuch, sich und seinen Lieben zwischen all dem Stress etwas Gutes zu tun, wird der nächste Strandurlaub weit weg von allem in der Sonne geplant, ein neuer Riesenfernseher gekauft, oder, um den Weg zur Arbeit etwas angenehmer zu gestalten, ein größeres und komfortableres Auto. Es geht ja alles und verspricht, unser individuelles Leben leichter, angenehmer und lebenswerter zu machen. Davon abhalten würden uns nur ein Blick aufs Bankkonto oder eine bewusste Entscheidung, etwas nicht zu tun. Das Flugzeug fliegt doch sowieso, der Fernseher ist doch schon produziert, das Rind zum Steak schon geschlachtet – die eigene Entscheidung macht doch keinen Unterschied, denkt vielleicht so mancher.

Gemeinsam Gewohnheiten und Angebot ändern

Ja, es ist teilweise unbequemer und umständlicher, sich nachhaltiger zu verhalten. Dennoch zählt jede Entscheidung. Wenn alle denken, das eigene Verhalten fällt doch in der Masse von Millionen anderen nicht auf, handeln am Ende doch Millionen und Milliarden von Menschen. Und genau dieses kollektive Handeln und die Vielzahl einzelner Verhaltensweisen sind entscheidend, um der Komplexität globaler Herausforderungen zu begegnen. Und deshalb zählt jede Entscheidung – egal ob privat, im Freizeitverein oder im Beruf. Und wenn man sich mit anderen zusammenschließt, kann man gemeinsam viel verändern. Gemeinsam ist es auch einfacher, Gewohnheiten zu durchbrechen und neu zu lernen, sich gegenseitig zu unterstützen und Ideen auszutauschen.

Um nachhaltiges Leben für den Einzelnen leichter zu machen, brauchen wir ein Angebot an nachhaltigen Waren und Dienstleistungen, die bezahlbar für alle und dabei praktischer und attraktiver sind als nicht nachhaltige. Das kann erreicht werden, indem regionale, saisonale und ökologische Produktion gefördert wird und die Preise die wahren Kosten enthalten. Die Energie-, Agrar- und Konsumwende hat bereits begonnen, ebenso Diskussionen um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Es mag widersprüchlich scheinen, dass wir uns bei der Transformation ganzer Infrastrukturen so beeilen müssen und gleichzeitig eine Entschleunigung im Alltag hilfreich sein kann, um weniger zu konsumieren und mehr Zeit für das wirklich Wesentliche im Leben zu haben.

In der Umweltpsychologie heißt es oft, man sollte Gelegenheitsfenster nutzen, um Routinen aufzubrechen. Umzüge, besondere Lebensereignisse, einen neuen Job. Vielleicht bietet gesellschaftlich die Corona-Krise ein solches Zeitfenster, um unsere Routinen zu überdenken, und nicht nach der Krise weiterzumachen wie bisher. Für Max Reger hätte sein Zusammenbruch vor Erschöpfung vielleicht ein Signal und ein Anlass sein sollen, um seine Routinen zu verändern. Das war es wohl nicht. Als Nachhaltigkeitswissenschaftlerin tröste ich mich aber mit dem Gedanken, dass vor 100 Jahren zumindest seine geliebte Salami wahrscheinlich ökologisch und regional war.

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