Der Amazonas – von der Peripherie ins Zentrum der Diskussionen
19.04.2021
Die Verhaltens- und Produktionsmuster der Menschheit haben die Welt auf Kollisionskurs mit unseren planetarischen Grenzen gebracht. Während uns die globale Erwärmung in Richtung einer großen Katastrophe führt, werden die Ökosysteme von Tag zu Tag fragiler, und die soziale Ungleichheit wächst rasant. Wir müssen uns dringend in Richtung einer nachhaltigeren und gerechteren kollektiven Existenz bewegen. In diesem Text geht es um die Folgen der aktuellen Nicht-Nachhaltigkeit, nicht um ihre Ursachen. Er erforscht unser komplexes Dilemma, indem er reflektiert, wie wir – als Individuen oder Regierungen – der Realität einen Sinn geben und wie unsere Vorstellungen zu bequemen Antworten führen können. Ferner wird dargestellt, aus welchem Grund der brasilianische Amazonas Elemente enthält, die ihn zu einem Kessel der Möglichkeiten für neue Lebensweisen machen. Der Erhalt des Regenwalds ist ein zentraler Bestandteil der Bemühungen zum Schutz des Weltklimas, jedoch stellen die gegensätzlichen Ansichten verschiedener Interessengruppen erhebliche Herausforderungen für seinen Erhalt dar. Auch wenn es stimmt, dass wir „alle gemeinsam drinstecken”, wird Brasilien eine entscheidende Rolle dabei spielen, den Kurs in Richtung einer besseren Klimazukunft zu bestimmen – sowohl objektiv als auch subjektiv.
Innere Ängste und Scheidewege
Bruno Latour (2018) bietet eine interessante Perspektive auf unsere Zeit, indem er die Wissenschaftsleugnung als eine Form des Eskapismus vor der Realität untersucht. Eskapismus nimmt viele Formen an und hat unterschiedliche Auslöser. Es können eine individuelle Reaktion auf den Verlust eines geliebten Menschen, erdrückende Schulden oder eine Veränderung des Status oder der Beschäftigung sein. Anstatt Verantwortung zu übernehmen und sich mit der Situation auseinanderzusetzen, entscheiden sich manche Menschen dafür, die Realität zu verleugnen und vor den vor ihnen liegenden Herausforderungen davonzulaufen. Sowohl Einzelpersonen als auch Gruppen können dieses Verhalten aufweisen. Wir sehen dies an unserer Reaktion auf die sich abzeichnende Klimakrise, die unsere gegenseitige Abhängigkeit hervorhebt und die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft und auf der internationalen politischen Bühne stärkt. Der systemische Denialismus und die wissenschaftliche Skepsis stellen wesentliche Herausforderungen dar, da Maßnahmen zur Bewältigung der Klimakrise und anderer Probleme auf einem tiefen Verständnis und einer breiten Akzeptanz dieser Realität beruhen müssen.
Die offensichtliche und unvermeidbare soziale Strukturkrise, in die wir verwickelt sind, beeinflusst Schlüsselaspekte unserer persönlichen und politischen Existenz, unser Verhältnis zur Realität und die Akzeptanz der Notwendigkeit von Veränderungen. Die Welt ist strukturell ungerecht, und Teile der Gesellschaft sehen sich mit unvermeidlichem Ausschluss konfrontiert, während sich die Zerstörung unserer natürlichen Welt beschleunigt. Dies ist ebenso erschreckend wie offensichtlich. Wir sind Teil eines Systems, und als solches ist globale Gerechtigkeit ein ethischer Imperativ, der nicht geleugnet oder verschoben werden darf. Das ethische und empathische Gewicht dieser Tatsache sollte uns zu einer gerechteren Existenz anregen. Das Akzeptieren dieser Realität ist jedoch mit Kosten verbunden, die nur wenige bereit sind zu zahlen: das Eingeständnis, dass wir uns geirrt haben und uns ändern müssen.
Da wir einen endlichen Lebensraum teilen, haben wir eine persönliche Verantwortung für das Wohlergehen der Menschen und des Planeten. Nur durch Dialog und Multilateralismus können wir dieser Verantwortung gerecht werden und jene Herausforderungen bewältigen, die sich aus der Klima- und Biodiversitätskrise und dem Anstieg der Skepsis ergeben. Doch das Schmieden neuer übergreifender und alternativer Vereinbarungen (wie das Pariser Abkommen) erfordert, dass wir neue Ansichten akzeptieren, alte Überzeugungen aufgeben und uns als Gesellschaft und Individuen verändern. Dies ließ mich darüber reflektieren, wie Individuen und soziale Strukturen in Bezug auf psychoanalytische Konzepte reagieren – zum Beispiel, wie die Lähmung zwischen der Selbsterkennung innerer Fehler und der Notwendigkeit positiver Transformationen uns zu einer postfaktischen Welt geführt hat. In einigen Fällen ist die Realität so schwierig und der Handlungsbedarf so klar, dass selbst die qualvollsten Wahnvorstellungen vorzuziehen sind.
Die Wahrheit des Klimawandels ist unbequem, und neue Kommunikationsstrategien werden genutzt, um personalisierte On-Demand-Inhalte und damit Realitäten zu erschaffen. Für einige Menschen ist die Kontrolle von Informationen, unabhängig von ihrem Inhalt, ein Imperativ und eine starke Manifestation von roher Macht. Wenn wir die Fakten zugunsten persönlicher Vorurteile und Ansichten verdrängen, verschließen wir vor uns dem Dialog. Im Extremfall fördert dies den Aufstieg von Fluchtbewegungen, politischem Extremismus und stärkerem Protektionismus. „Der Amazonas brennt nicht”, „das Virus existiert nicht” und „die Erde ist flach” sind Argumente, die leicht über die Lippen gehen, obwohl die Wahrheit anders ist. Dass Menschen bald auf dem Mars leben könnten, scheint manchmal wahrscheinlicher als die Entwicklung integrativer und nachhaltiger Gesellschaften.
Wo sich Überzeugungen treffen
Der Wald wird sowohl in Bezug auf seinen materiellen Nutzen (z. B. als Kohlenstoffsenke und Quelle von Biodiversität und Rohstoffen) als auch als Kulturgut geschätzt. Sein Fortbestand hängt von unserer Fähigkeit ab, zu kooperieren und Vereinbarungen im multilateralen Dialog zu treffen. Seine Rolle als Fokus des Dialogs könnte auch als Wert an sich betrachtet werden. Wie Carlos Rittl, IASS Senior Fellow und assoziiertes Gründungsmitglied des Brazilian Climate Center und des Climate Observatory Lab, betonte, steht der Wald vor der schlimmsten Situation seit 30 Jahren, nicht zuletzt aufgrund der umweltfeindlichen Rhetorik von Präsident Bolsonaro. Die Zunahme von Landraub, die Verfolgung von Umwelt- und indigenen Aktivisten und die rasante Abholzung der Wälder sind nicht einfach ein Spiegelbild der extremen politischen Landschaft Brasiliens oder der Ohnmacht der internationalen Gemeinschaft. Sie sind letztlich systemische Ergebnisse und spiegeln den Antagonismus von unvereinbaren Glaubenssystemen wider: auf der einen Seite der Glaube an grenzenloses Wachstum, auf der anderen Seite die Endlichkeit der Ressourcen und die Gebote des Natur- und Klimaschutzes.
Die Kontinuität des Waldes und die Erzählungen, die ihn unterstützen, sind der Wendepunkt zwischen dem Festhalten an unmoralischen alten Praktiken und der unbekannten menschlichen Praxis, die es ermöglicht, ihn aufrechtzuerhalten. An der Peripherie einer globalisierten Welt gelegen, befindet sich der Amazonas im Zentrum globaler Diskussionen und hat das Potenzial, auf die Konflikte zu reagieren, denen die Menschheit gegenübersteht, und das Bewusstsein für die Notwendigkeit zu fördern, Antagonismen zwischen Völkern, Nationen und Weltanschauungen zu versöhnen. Seine Erhaltung würde mehr bewirken als nur die Bewahrung der Biodiversität und des Schutzes des Klimas, sie wäre ein Triumph des Zusammenkommens und des Dialogs über die Angst.
Auf dem Weg zu einer vernünftigen Einigung
Angesichts der Herausforderungen, die die Covid-19-Pandemie mit sich bringt, untersucht eine Reihe von Ländern die Optionen für eine „grüne” und nachhaltige Erholung. Im Falle Brasiliens muss der Amazonas und seine Zukunft im Mittelpunkt eines jeden Erholungspakets stehen. Wie von Ismael und Carlos Nobre (2018) vorgeschlagen, würde die Amazon Third Way Initiative die soziale und technologische Transformation im gesamten Amazonasgebiet durch die Entwicklung einer sozial inklusiven „grünen Wirtschaft” fördern, die durch Wertschöpfungsketten auf der Basis von Nicht-Holz-Produkten gestützt wird. Diese Bemühungen sollten durch internationale Kooperationsprojekte unterstützt werden, die von brasilianischen Akteuren koordiniert werden.
Brasilien hat mit einer Vielzahl sich überschneidender und extremer gesellschaftlicher Dilemmas zu kämpfen. Die Schaffung einer tragfähigen Alternative für den Amazonas ist für die Menschheit von entscheidender Bedeutung. Nicht nur aufgrund dessen, was seine Erhaltung objektiv impliziert, sondern auch wegen der Extreme, die dort beim Zusammenprall von Glaubenssystemen zu beobachten sind, was zu Verfolgung, Abholzung und Gewalt führt. Wir sollten uns genauso viel Mühe geben, einen Weg zu finden, den Amazonas zu erhalten, wie wir die Vorteile seines Schutzes untersuchen, da er uns zwingt, einen Dialog zu führen und persönliche Verantwortung anzuerkennen. Brasilien könnte erneut zu einem wichtigen Akteur im Bereich Naturschutz und Multilateralismus werden. Allerdings sind Dialog und Einfühlungsvermögen unabdingbar. Meine Bemerkungen könnten als Verweigerung verstanden werden, wenn man die harte Realität des wieder aufkeimenden Nationalismus (wie in Brasilien) nicht in Betracht zieht; es gibt jedoch weder Zeit noch Raum für Pessimismus. Die Praxis der Veränderung ist eine tägliche Aufgabe. Unsere persönlichen Überzeugungen sind zentral, und es gibt viel zu verändern; dafür müssen wir den Amazonas und unsere Überzeugungen an die richtige Stelle setzen – nach vorne und ins Zentrum.