Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Der Globale Süden - Von der Konzeption zum Handeln?

15.06.2021

Ein nur allzu realistisches Szenario? Eine Migrantenkarawane zieht nach Norden zur US-Grenze.
Ein nur allzu realistisches Szenario? Eine Migrantenkarawane zieht nach Norden zur US-Grenze.

Am 31. Mai 2021 lud das Institute for Advanced Sustainability Studies zu der Veranstaltung „The Global South: Where and what is it?“ ein. Für Planung und Organisation zeichneten Alexandra Tost, Artur Sgambatti Monteiro, Flávio Lira, Natalia Realpe Carrillo, Pradeep Singh und Achim Maas verantwortlich. Die Online-Diskussion war das Ergebnis mehrmonatiger Vorbereitung von Fellows und wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen am IASS, die das Potenzial des Themas erkannt hatten.

Der Begriff „Globaler Süden“ wird in den Sozialwissenschaften zunehmend verwendet und ist zu einer gemeinsamen Grundlage in Fächern wie Ungleichheitsforschung, Internationale Kooperation, Wirtschaft und Internationales Recht geworden. Der Hauptantrieb für unsere Diskussion war jedoch die Unbestimmtheit des Begriffs „Globaler Süden“. So gängig er im akademischen und politischen Bereich auch ist, fehlt ihm doch eine klare Definition. Unsere erste Frage war: Was ist der Globale Süden? Gibt es eine genaue Definition? Stammt er von der Idee der „Dritten Welt“ ab oder vielleicht von dem neueren Begriff der „sich entwickelnden und unterentwickelten Länder“?

Eine weitere Frage folgte bald: Wo ist der Globale Süden? Wenn der Begriff seine Wurzeln in der Idee der „Dritten Welt“ hat, einer Idee aus der Ära des Kalten Krieges, inwieweit spiegelt er dann die heutige globale gesellschaftspolitische Dynamik wider? Wie verhält sich der Begriff „Globaler Süden“ zur UN-Definition von sich entwickelnden und unterentwickelten Ländern? Erscheint es aus rein geographischer Sicht richtig, mit diesem Begriff eine Gruppe von Ländern auf der Grundlage gemeinsamer sozioökonomischer Faktoren zu charakterisieren, auch wenn einige dieser Länder nicht in der südlichen Hemisphäre liegen?

Die Dynamik unserer frühen Diskussionen am IASS brachte eine Gruppe interessierter Wissenschaftler*innen zusammen. Unser Unbehagen über das Fehlen einer klaren Definition wich schließlich der Erkenntnis, dass dies eine Gelegenheit war, eine vielfältige, spannende und – warum nicht? – inspirierende Diskussion darüber zu führen, „was“ der Globale Süden ist und „wo“ er sich befindet.

Drei Expert*innen erklärten sich bereit, ein offenes Gespräch und einen Dialog über all diese Ideen zu führen: Dr. Luis Eslava, Reader in International Law & Co-Direktor am Centre for Critical International Law (CeCIL) an der Kent Law School, University of Kent (UK), Vinod Ramanarayanan, Klimaschutz-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Beuth Hochschule für Technik Berlin (Deutschland), und Dr. Luciana Ballestrin, Associate Professor of Political Science an der Federal University of Pelotas (Brasilien).

Dr. Luis Eslava machte den Auftakt. Er argumentierte im Kontext seines Fachgebiets – des Völkerrechts – und betonte, dass die internationale Rechtsordnung traditionell auf dem Konzept des Staatszentrismus basiert, d.h. auf der Vorstellung, dass souveräne Staaten die zentralen Akteure im internationalen System sind. Aus dieser Konzeptualisierung könne man ableiten, dass Staaten in ihren Wechselbeziehungen manchmal widersprüchliche Impulse und divergierende Interessen haben.

Dr. Eslava erklärte, dass der Binarismus des Völkerrechts nicht nur in Dichotomien wie national/international, Gegenwart/Vergangenheit, nah/fern, Recht/faktische Realität, sondern auch in der Diskussion um Zentrum/Peripherie in den Internationalen Beziehungen präsent ist. Wenn man über den Globalen Süden diskutiert, sei es daher notwendig, die historische Auseinandersetzung zwischen Imperien (Zentrum) und Kolonien (Peripherie) zu berücksichtigen.

Der aus dem Kolonialismus hervorgegangene Ausbeutungsprozess komme nur wenigen Ländern zugute, so dass es große Asymmetrien zwischen dem sogenannten Globalen Süden und den (ehemaligen) Kolonialmächten gebe. Bekanntermaßen profitierten die Länder des Globalen Südens kaum von der Globalisierung. Zusammenfassend lasse sich sagen, dass der Globale Süden als ein politisches Konzept verstanden werden kann und sollte, das verstärkt untersucht werden muss. Ein tieferes Verständnis der herrschenden Ungerechtigkeiten könnte nicht nur ein fundiertes Erklärungsinstrument darstellen, sondern auch dazu beitragen, Veränderungen herbeizuführen.

Vinod Ramanarayanan erläuterte in seinem Vortrag, wie die Länder des so genannten Globalen Südens mit ihren Problemen auf nachhaltige Weise umgehen können. Er begann mit der Feststellung, dass es bisher die Länder des Globalen Nordens waren, die einflussreiche Theorien rund um das Konzept der „Entwicklung“ verbreitet haben. Diese seien maßgeblich für die Vorstellung, was ein „entwickeltes“ Land ist und wie dieser Entwicklungsstand erreicht werden kann. Der Forscher zeigte auch, dass die meisten Daten über „urbane Theorien“ von westlichen Ländern zusammengestellt werden, die Zugang zu Informationen haben, die für einen Großteil des Globalen Südens praktisch nicht verfügbar sind. Ramanarayanan nannte Beispiele von Akteuren aus dem Globalen Süden, die nachhaltige Lösungen für Probleme im Zusammenhang mit ihrer Stadtentwicklung gefunden haben. Um seinen Standpunkt bezüglich der Unterschiede zwischen dem (globalen) Norden und dem Süden zu belegen, verglich er zwei Städte: Amsterdam und Quito. Es wurde deutlich, dass sich die Prioritäten in Quito deutlich von denen Amsterdams unterschieden, da die Stadt einen besonderen Sinn für Dringlichkeit und realistische Ziele entsprechend ihrer städtischen Probleme zeigte. Ramanarayanan erklärte auch, dass der Norden in vielerlei Hinsicht bereit sein sollte, vom Süden zu lernen. Schließlich betonte er die Bedeutung des Kontextes, da jede Stadt einzigartig sei und entsprechend ihrer eigenen Realität behandelt werden sollte.

Die letzte Referentin, Professorin Luciana Ballestrin, erklärte, dass das Konzept des „Globalen Südens“ aus vier verschiedenen Perspektiven betrachtet werden könne: der deskriptiven, der identitären, der analytischen und der epistemologischen.

Die deskriptive Perspektive bezieht sich laut Prof. Ballestrin auf die Verwendung des Begriffs „Süden“ in einem technischen und geografischen Sinne. Die Verwendung des Begriffs mit dem Adjektiv „global“ ist eine Folge des Endes des Kalten Krieges und des Aufkommens des Globalisierungsdiskurses. Der Begriff wird mit der Vorstellung einer in Industrie- und Entwicklungsländer geteilten Welt assoziiert und ist ein Erbe des (bisweilen veralteten) Begriffs „Dritte Welt“. In beiden Fällen gibt es eine Assoziation zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Modernität als Hauptstandard der Unterscheidung. Ballestrin betonte, dass der Globale Süden nicht nur durch den Filter der „Unterentwicklung“ betrachtet werden solle. Es sei nicht akzeptabel, ihn nur als eine Gruppe von nicht-modernen Ländern in ehemaligen Kolonialgebieten zu betrachtet. 

Die identitäre Dimension bereitet nach Ballestrins Darstellung am besten den Weg für eine Analyse der Ursprünge des Südens. Bevor der Begriff „Süden“ in den 1980er Jahren aufkam, wurde er bereits als Marker für eine marginalisierte Position verwendet. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass der Süden auch mit den Kampagnen des Antiimperialismus und Antikolonialismus in Verbindung gebracht wird, wie sie in der Bandung-Konferenz, der Entstehung der Bewegung der Blockfreien Staaten und Kubas Trikontinentalismus vertreten wurden. Er ist also nicht einfach eine unterdrückte Region, sondern ein wichtiger Bereich innerhalb des historischen Kampfes gegen Kolonialismus und Imperialismus.

Die analytische Dimension beleuchtet das Konzept weiter. Die Mitglieder des Globalen Südens sind nicht nur traditionelle Nationalstaaten; sie können auch als eine Kategorie gedacht werden, die keine zentrale Führung hat und somit durch eine Vielzahl von Diskursen und Akteuren geprägt wird.

Die epistemologische Dimension schließlich bezieht sich auf die Vision des Globalen Südens als valider und originärer Wissensproduzent. Es gibt viele Beiträge aus dem Süden zur akademischen Welt, wie z.B. die Alternativen zur neoliberalen Globalisierung, die Debatten über akademische Abhängigkeiten und die Geopolitik des Wissens.

Nach den Vorträgen und einer lebhaften Diskussion ist die Erkenntnis, wie umstritten und wertbeladen die Idee eines „Globalen Südens“ ist, vielleicht die einzige wirkliche Schlussfolgerung. Angesichts der weitgehend „dekonstruierten“ Herangehensweise an seine Verwendung in vielen Studien dürfte es schwierig sein, eine Definition vorzulegen, die verschiedenen Wissensbereichen gerecht werden kann. Es scheint auch unwahrscheinlich, dass eine einzige Definition a) alle relevanten Akteure umfassen könnte, und b) so spezifisch sein könnte, dass sie als „wissenschaftlich“ im traditionellen kartesianischen Sinne betrachtet werden könnte.

Dies wirft die Frage auf, ob der Begriff letztlich eine akademische Modeerscheinung ist oder hauptsächlich als Ersatz für „veraltete“ Konzepte verwendet wird. Es ist auch wichtig zu überlegen, welchen Unterschied seine Verwendung für die Verabschiedung von Maßnahmen zur Bekämpfung des hohen Niveaus an Ungleichheit machen könnte, mit dem die Nationen konfrontiert sind, die üblicherweise in dieser Gruppe enthalten sind. (1)

Obwohl genauere (wenn auch weniger restriktive) Konzepte und Definitionen wie der „Globale Süden“ für die analytische Weiterentwicklung der Sozialwissenschaften unerlässlich sind, können sie auch zu einer Falle werden: Wir können leicht so sehr mit der Ausarbeitung umfangreicher Definitionen beschäftigt sein, dass wir aus den Augen verlieren, was uns dazu gebracht hat, sie überhaupt (neu) zu denken. Unsere Diskussion hat jedoch gezeigt, dass das Zusammentreffen von Expert*innen aus unterschiedlichen, aber komplementären Bereichen ein tieferes Verständnis für die Inter- und Transdisziplinarität analytischer Konzepte und Ideen fördern kann, ohne den ursprünglichen Impuls aus den Augen zu verlieren: den Glauben an die Notwendigkeit, die Welt um uns herum kritisch zu bewerten. Einerseits ist die Suche nach einer Definition des "Globalen Südens" theoretisch gesehen lohnend genug, da sie unseren gesunden Menschenverstand herausfordert und uns zu einer ständigen und konstruktiven Überprüfung unserer sozio-politischen Realität und der Ideen, mit denen wir dieser einen Sinn zu geben versuchen, antreibt. Andererseits ist es eine weitere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese konzeptionelle Reise einen fairen und positiven Wandel in den internationalen Beziehungen fördert.

Vielen Dank an die folgenden studentischen Berichterstatter, die bei der Informationsbeschaffung geholfen haben: Amanda Costa Patto Pinho, Amanda Simões, Arthur Siqueira Veronez, Cristiane Barboza Lopes da Silva, Gabriel Weslley Neves Cândido Pereira, Letícia Fernandes Lima, Letícia Zaguini de Miranda, Maria Cândida Wehrmann, Paula Murari Oliveira, Teodora Maicá Soares, Vinícius Eduardo Batista de Oliveira, Vitor Emmanuel Maia Souza.

(1)    Eine aktuelle IASS-Studie von Artur Sgambatti Monteiro et al. (Sustainable Solutions for the Global South in a Post-Pandemic World) leistet großartige Arbeit, indem sie Probleme, die den Globalen Süden betreffen, aus mehreren kritischen Perspektiven im breiteren Kontext der SDGs behandelt. Die Studie ist zu finden unter https://www.iass-potsdam.de/en/output/publications/2021/sustainable-solutions-global-south-post-pandemic-world.

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