Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Strukturen im Wandel – Lausitz aus der Nähe

23.06.2021

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Dr. Johannes Staemmler

Seit 2020 findet der Künstler und Fotograf Sven Gatter in der Niederlausitz Spuren des Zerfalls, die gleichzeitig Neuanfang und Diskursanlass sind. Die Ergebnisse seiner Arbeit möchte er nun in dem Künstlerbuch "ECHO TEKTUR. Ruinen und Modelle" zusammenführen. Begleitet wird er dabei von Johannes Staemmler, dessen Textbeitrag für das Publikationsvorhaben hier in gekürzter Fassung veröffentlicht wird. Vom 10. September bis 21. November 2021 sind Sven Gatters Arbeiten im Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst zu sehen.

Was sehen und empfinden wir im Anblick eines eingesunkenen Dachstuhls oder einer bemoosten Ziegelmauer? Welche Wirklichkeit lässt sich ablesen, hineindeuten oder erkennen? Wofür kann Verfallenes eine Quelle sein?

2019 begannen Sven Gatter und ich ein Gespräch über konkrete Strukturen, die im Laufe der Zeit ihre ursprüngliche Funktion verloren haben. Verfallene Gebäude sind ein Beispiel dafür und die gibt es auch in der Lausitz. Mit den jeweils eigenen Erfahrungen aus der postsozialistischen Transformation und unterschiedlichen Beobachtungsstrategien, die wir entwickelt haben, schärften wir einander den Blick für eine Region am Beginn neuerlichen Wandels.

Sven Gatters Konzept der ECHO TEKTUR bringt zwei Begriffe zusammen, die in vielfältiger Weise aufeinander bezogen werden können. Tektur verweist auf bauliche Veränderungen, repräsentiert durch Mauern, Steine, Dachstühle und vieles andere. Selbst Landschaften sind heute durch uns Menschen ver- und überformt. Ein Echo ist ein Widerhall – die verzögerte und oft uneindeutige Dopplung eines Geräuschs. Für ein hörbares Echo braucht es physische Strukturen, an denen sich die Schallwellen brechen und ausreichend Raum, in dem sich der Widerhall entfalten kann. Aber auch im übertragenen Sinne sehen wir in Gebäuden und Ruinen das Echo vergangener Ideen, die durch sie bis zu uns gelangen. In der Auseinandersetzung mit den ECHO TEKTUR-Arbeiten Sven Gatters wird den Betrachtenden ein Raum eröffnet, der mit dem Widerhall des Gewesenen und doch gleichzeitig Gegenwärtigen spielt.

Sven Gatter lenkt den Blick in dieser Suche auf sehr wesentliche Elemente: Mauern, die einst ein Inneres begrenzten, und Balken, die das schützende Dach trugen. Es sind diese essenziellen Elemente, die es für Behausungen braucht. Sie stammen aus Zeiten, in denen die Lausitz mehr Landwirtschafts- als Industrieregion waren. Mit der Ausweitung der Kohleproduktion und sich ansiedelnder Industrien (u.a. Textil und Glas) wurden im 20. Jahrhundert die bäuerlichen Lebensweisen be- und verdrängt. Das Leben und Wohnen in Boomstädten wie Hoyerswerda und Cottbus triumphierte über das mühsame Landleben. Mit den 1990er Jahren verloren auch die industriellen Zentren im Handumdrehen ihre Funktion und viele Menschen verließen wiederum die Region. Diese sich langsam desintegrierenden physischen Formationen der Vergangenheit lassen sich leicht als Metapher für die emotionale Herausforderung im Strukturwandel deuten, die darin besteht, dass sich bekannte und geschützte Innenräume aufzulösen beginnen. Wenn der Betrieb schrumpft, die Kinder in der Ferne Familien gründen und die alten Nachbarn sterben, dann zerfällt die soziale Behausung.

Die einzelnen Arbeiten zu Gatters Werkreihe ECHO TEKTUR sind überwiegend in der Lausitz entstanden, sie haben aber ihren Ursprung in der Auseinandersetzung mit Beschleunigungs- und Beharrungskräften im Strukturwandel an verschiedenen Orten. Sie reichen in ihrer Wirkung auch über die Lausitz hinaus, weil sie auf das grundlegende Motiv des Zerfalls und der Neuaneignung verweisen, die jeder Veränderung innewohnt.

Sven Gatter sucht in seiner fotografischen Auseinandersetzung immer wieder das Gespräch mit Menschen, die um seine Szenen herum auftauchen. Dadurch entstehen Situation der multiplen Beobachtung, die bis in die Arbeiten hineinwirken. Wenn ein Gespräch entsteht, verschränken sich die Interessen und die Neugier und es kommen meist konkrete Geschichten zu den Objekten oder der Region hervor. Wenn der Künstler auf seinem Weg bemerkt wird, entsteht schon ein erstes Echo in der Region.

Durch Sven Gatters Arbeiten entsteht gerade nicht eine Enteignung oder eine narrative Überschreibung des Konkreten oder der Region. Vielmehr zeigt sich in ihnen eine Sensibilität für Strukturen, die dadurch erst für die Lausitzer*innen und andere sichtbar werden. Wenn die Bilder u.a. im Museum für Moderne Kunst in Cottbus gezeigt werden, dann entsteht ein künstlerisches Echo in der Region. Es wird Anlass stiften, Strukturwandel zu besprechen und Wiedererkennungsmöglichkeiten zu bieten.

Sven Gatter ist in seiner künstlerischen Arbeit auf der Suche nach Strukturen und ihren oft fragilen Zuständen zwischen Stabilität und Wandel sowie Vergangenheit und Zukunft. Die sozialwissenschaftliche Forschung am IASS zum Strukturwandel in der Lausitz verhält sich ganz ähnlich. Gesellschaftlichen Strukturen und ihren Veränderungen zu begegnen, sie zu fassen, zu beschreiben und dabei ein Gespür für Grundsätzliches in diesen Prozessen zu entwickeln, erzeugen jeweils Haltungen, in denen Sven Gatter und ich uns angenähert haben. Es ist ein Gesprächs- und Arbeitsraum entstanden, in dem wir disziplinäre und formale Grenzen als durchlässig erleben. Die Begleitung der künstlerischen Forschung Sven Gatters hat zu einer Reflexion meiner eigenen Forschungshaltung und einer Weitung des Blickes auf die Region geführt.

Sven Gatter ist 1978 in Halle (Saale) geboren und in der ostdeutschen Industriestadt Bitterfeld aufgewachsen. Von 1999 bis 2006 absolvierte er ein Studium der Angewandten Sozialwissenschaften in Erfurt, das er mit einer Diplomarbeit zum Thema „Fotografische Bilder als Quellen der empirischen Sozialforschung“ abschloss. Von 2004 bis 2005 besuchte er die Abendakademie der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und von 2010 bis 2011 die Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin.

Seither setzt er sich in seiner künstlerischen Arbeit vor allem mit dem Wandel Ostdeutschlands auseinander. Für seine Foto-Text-Arbeiten „Gottes Aue“, „Luft Schiffe“, „Hütten“, „Bernsteine“ und „Findling“, in denen er eigene Bilder und Texte mit gefundenem Archivmaterial kombiniert und so zu ganz subjektiven Narrativen verdichtet, wurde er im Jahr 2016 mit dem Lotto Brandenburg Kunstpreis ausgezeichnet.

Seit 2019 gehört er zum Team der AFF Galerie, Berlin. Darüber hinaus engagiert er sich im Verein Perspektive hoch 3 für Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsformate, mit denen das Erwachsenwerden unter den besonderen historischen Bedingungen des Zusammenbruchs der DDR und der sich anschließenden deutschen Wiedervereinigung erforscht werden.

Website: https://svengatter.de/echo-tektur/

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