Symptom einer Kipppunktdynamik?
30.11.2021
Der Kohlebeschluss der COP26 war ohne Zweifel eine große Enttäuschung. Anstelle eines „Ausstiegbeschlusses“ wurde es ein „Reduktionbeschluss“, der Vielen wie Salz in den Augen angesichts der bereits spürbaren massiven Klimafolgen wirkt. Allerdings, und darin sind sich durchaus viele Kommentatoren einig (Abnett und Volcovici 2021, Jotzo 2021), sendet der Beschluss ein deutliches Signal. The writing is on the wall – ein neues Narrativ hat Einzug gehalten, das ein mittel- bis langfristiges Ende der Kohlenutzung beschreibt.
Möglicherweise ist die Entscheidung, so schwach wie sie klingt, aber das Symptom eines Kipppunktes, denn das fossile Energieregime befindet sich bereits in einem instabilen Zustand und so kann ein als insignifikant erachtetes Signal bereits große Wirkung entfalten. Dieser Mechanismus, der vor allem aus der Biologie bekannt ist (Lenton et al 2019), wird vermehrt in der sozialen Transformationsforschung untersucht (IASS 2021). Als sozialer Kipppunkt wird der Moment in der Trajektorie eines sozialen Systems verstanden, ab dem eine kleine Veränderung einen nicht-linearen und abrupten Wandel einleitet, der durch selbstverstärkende Prozesse rapide zu einem gegebenenfalles irreversiblen Systemwechsel führt. Ein entscheidender Faktor für soziale Kipppunkte, ist das zielgerichtete Agieren von Akteuren – also bewusstes Handeln, mit dem die eigene Umwelt auf verschiedenen zeitlichen und räumlichen Ebenen gezielt beeinflusst werden kann.
Beispiele hierfür lassen sich in vielen Bereichen ausmachen. Die deutsche Wiedervereinigung war zweifellos ein solcher systemischer Umbruch, begleitet von einem großen Bevölkerungsverlust und einem nahezu vollständigen wirtschaftlichen Kollaps in den ostdeutschen Bundesländern. Ein anderes Beispiel stellt die Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2001 dar, welches eine eher triviale nationale politische Intervention zu diesem Zeitpunkt darstellte. Allerdings bewirkte diese den umfangreichen Ausbau der Solar- und Windenergie, dies löste starke Lerneffekte aus, und führte zu massiv sinkenden Kosten, welche erneuerbaren Energien ebenso für andere Länder attraktiv machte. Dies wiederum hat einen weltweiten sich selbst verstärkenden Kreislauf von Marktwachstum und Kostenreduktion ausgelöst. Die Wirkmächtigkeit dieser Entwicklungen war allerdings erst in der Retrospektive nachvollziehbar.
Allem Anschein nach, ist die Kohleindustrie ebenfalls einem sich selbstverstärkenden Prozess ausgesetzt und es lassen sich in einzelnen Ländern sowie Sektoren bereits Kipppunkte ausmachen. Wer hätte vor vier Jahren vermutet, dass die konservative polnische Regierung einen Kohleausstieg in Erwägung ziehen würde (Lesser 2020)? Bis heute spielt die Kohle mit 46 Prozent eine zentrale Rolle im Bruttoenergieverbrauch in Polen. Neben der ökonomisch defizitären Lage aller Kohlebergwerke im Land, erzeugen die massiven gesundheitlichen Auswirkungen (EEA 2021) der Kohleverbrennung zunehmend Druck auf politische Entscheidungsträger (Lesser 2020). So hat die polnische Regierung in der Perspektive auf 2040 ein fast neues Elektrizitätssystem mit einer starken Basis von emissionsniedrigen und emissionsfreien Quellen versprochen. Bis 2030 soll die Kohleverbrennung in urbanen Haushalten bis 2030 beendet, die Stilllegung von Bergwerken wiederum bis 2049 abgeschlossen sein (Ministerstwo Klimatu i Srodowiska 2021), um so die EU-Klimaziele bis 2050 einzuhalten.
Der 2020 schwer errungene Kompromiss, die Kohleverstromung und den Braunkohlebergbau in Deutschland bis 2038 auslaufen zu lassen war unzweifelhaft ein Kipppunkt (BMWi 2020). Tatsächlich erleben wir jetzt eine Beschleunigung der Dynamik. Der gerade verabschiedete Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sieht ein vorgezogenes Ende bis 2030 vor, damit Deutschland seine Klimaziele erreicht (SPD Website 2021).
In anderen Europäischen Ländern zeichnen sich ebenfalls Kipppunktdynamiken ab: Portugal hat eine Woche nach Abschluss der COP26 sein letztes verbliebenes Kohlekraftwerk abgeschaltet (Euronews) und ist damit das vierte Land in der Europäischen Union, welches dies tut (Tabelle 1). In der Tat hat die Dynamik innerhalb der EU bereits zu einer beschleunigten Stilllegung bestehender Kohlekraftwerke geführt, wobei 56 Prozent der Betriebskapazitäten entweder bereits seit 2010 stillgelegt wurden oder bis 2030 stillgelegt werden sollen. Die Pipeline der geplanten Kohlekraftwerke in den OECD- und EU-Ländern ist in den vergangenen sechs Jahren um 85 Prozent eingebrochen (E3G 2021).
Ländern ist in den vergangenen sechs Jahren um 85 Prozent eingebrochen (E3G 2021).
Zeitpunkt des Ausstiegs |
Länder |
Kohleausstieg vollzogen |
Belgien (2016) Österreich (2020) Schweden (2020) Portugal (2021) |
Bis 2025 |
Frankreich (2022) Vereinigtes Königreich (2024) Ungarn (2025) Italien (2025) Irland (2025) Griechenland (2025) |
Bis 2030 |
Nordmazedonien (2027) Dänemark (2028) Finnland (2029) Niederlande (2029) Slowakei (2030) Spanien (2030) Deutschland (2030) |
Bis 2050 |
Rumänien (2032) Montenegro (2035) Polen (2049) |
Selbst China hat erkannt, dass die Kohle keine Zukunft hat. Trotz der Verwässerung des COP26-Beschlusses, hat China festgelegt, dass es keine neuen Kohlekraftwerke in anderen Ländern bauen oder unterstützen wird (Early 2021 und NewsCN 2021).
Tatsächlich spielt die Finanzierung der Kohleindustrie eine wesentliche Rolle. Wie schon das Ruhrgebiet erleben musste, kann der letzte Schritt recht schnell gehen. Auch hier zeigte sich eine beschleunigte Dynamik, nachdem sich eine politische Mehrheit von der dauernden Kohlesubventionierung abgewandt hatte. Aber nicht nur Regierungen wenden sich ab, weltweit haben über 130 Finanzinstitute den Ausstieg aus der Finanzierung, Investition in oder Versicherung von Kohle angekündigt (Institut für Energiewirtschaft und Finanzanalyse [IEEFA]), 2020) (Briggs und Mey 2020).
Der COP26-Kohlebeschluss war kein großer Wurf, aber er reiht sich in eine Kaskade von Ereignissen ein, die eine Kipppunktdynamik vermuten lassen, die dem System „Kohle“ kurz- bis mittelfristig ein Ende setzen werden.