Stakeholder-basierte Szenarienentwicklung: Wie funktioniert das in der Praxis?
11.05.2022
Autoren: Judith Hermann, Maria Apergi, Andreas Goldthau, Silvia Weko, Esther Schuch, Laima Eicke, Jude Kurniawan
Mit Blick auf global stattfindende Transitionsprozesse im Energiebereich wollten wir herausfinden, wie es den Ländern des Globalen Südens in der Energiewende ergeht und welche Faktoren diese Entwicklungen beeinflussen. Um mehr darüber zu erfahren, haben wir uns intensiv mit der Erstellung von Szenarien auf der Grundlage von Stakeholder-Inputs beschäftigt und Fallstudien in vier Ländern in verschiedenen Regionen der Welt durchgeführt. Welche Überlegungen sind bei der Erstellung von Szenarien wichtig, und was war die Rolle der Stakeholder in diesem Prozess?
Da der Klimawandel als politisches Thema immer stärker in den Vordergrund rückt, befassen sich Forschende zunehmend mit möglichen Zukunftsperspektiven für nationale und globale Energiesysteme. Diese Zukunftsprojektionen - oder Szenarien - sind ein wichtiges Instrument für die Planung politischer Maßnahmen und die Unterstützung von Entscheidungsträgern, weil sie alternative Zukunftsszenarien und die ihnen zugrunde liegenden Entscheidungen aufzeigen.
Szenarien sind auch für unsere Forschung im ISIGET-Team sehr nützlich, da unser Fokus auf den systemischen Auswirkungen der globalen Energiewende für Länder des Globalen Südens liegt. Wir wollen herausfinden, wie die Risiken für diese Länder minimiert werden können, um ihnen den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu erleichtern. Damit Szenarien diesen Zweck erfüllen, müssen sie mögliche künftige Entwicklungspfade möglichst genau beschreiben und die Ergebnisse sollten in Politik und Gesellschaft hineinwirken. Dies waren zwei der Hauptanliegen, die wir bei der Entwicklung unseres Forschungsansatzes berücksichtigt haben.
Verlässliche Darstellung von Zukunftspfaden
Die adäquate Abbildung künftiger Entwicklungspfade der Energiewende durch Szenarien ist herausfordernd. Ein Grund für ungenaue Vorhersagen ist beispielsweise, dass sich die angewandte Perspektive häufig auf Kosten und technologischen Wandel konzentriert, z. B. Innovationsraten und Lernkurven. Faktoren wie Innenpolitik, geopolitische Veränderungen oder die Dynamik von Wertschöpfungsketten werden selten ausreichend eingebunden. Werden diese Faktoren als feste Rahmenannahmen behandelt, bleiben nichtlineare langfristige Entwicklungen unberücksichtigt, die für das Verständnis des Wandels der Energiesysteme entscheidend sind1. Deshalb fanden wir es für unsere Forschung notwendig, soziale und politische Faktoren explizit einzubeziehen und zu untersuchen, welchen Einfluss die Variablen aufeinander haben und welche Dynamiken sich daraus ergeben könnten. Als Methode haben wir die Cross-Impact Bilanz Analyse (CIB)2 gewählt. Der Vorteil der CIB ist, dass sie es ermöglicht, qualitative Variablen in den Erstellungsprozess der Szenarien einzubeziehen und ihre gegenseitige Wechselwirkung zu untersuchen. Die zentralen Leitfragen unserer Forschung waren: Welche Faktoren bestimmen den Prozess der Energietransition in den einzelnen Fallstudien? Und welche politischen Maßnahmen können eine erfolgreiche Transformation zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft unterstützen?
Wir haben mit vier Länderfallstudien gearbeitet: Chile, Jordanien, Kenia und Malaysia. Um die wichtigsten Einflussfaktoren auf die Energiewende in jedem der Fälle zu finden, wurden Expert:inneninterviews durchgeführt. Im weiteren Verlauf befragten wir Entscheidungsträger, welche Entwicklungen sie für möglich halten und welche Bedingungen ihrer Meinung nach dafür notwendig sind.
Auswirkungen der Forschung
Zwei unserer Kernanliegen waren, dass unsere Forschung tatsächlich Einfluss auf Politik und Gesellschaft hat und dass die Ergebnisse auch Zielgruppen über unser akademisches Umfeld hinaus erreichen. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Interessengruppen in alle Phasen des Prozesses einbezogen, von der Datenerfassung bis zur Auswertung. Wir sind sicher, dass ein solches kollaboratives Vorgehen viel eher dazu führt, dass wichtige Impulse im lokalen Kontext gesetzt werden, da Entscheidungsträger und andere wichtige Stakeholder ein Gefühl der Ownership für die Ergebnisse haben, welche sie mit erarbeitet haben. Wie sieht dieser partizipative Ansatz in der Praxis aus?
Stakeholder-Workshops zur Identifizierung von Interdependenzen und Erarbeitung von Politikempfehlungen
Nachdem wir auf der Grundlage unserer Expert:inneninterviews die wichtigsten Einflussfaktoren für Energiewendeprozesse in den jeweiligen Fallstudien definiert hatten, organisierten wir Stakeholder-Workshops, an denen 15-20 Stakeholder und Fachleute aus Bereichen wie der Industrie für erneuerbare Energien, der Politik, der Wissenschaft, der Energiefinanzierung und der Zivilgesellschaft teilnahmen. Dank Covid-19 hat unser Team viel Expertise in der Durchführung von Workshops in allen möglichen Formaten gesammelt, sei es vor Ort, hybrid oder komplett online. Da sich die Reisebestimmungen sehr schnell änderten, war eine Menge Spontaneität gefragt.
Bei der Planung waren unsere lokalen Partner unersetzlich. Wir danken der Deutsch-Chilenischen Energiepartnerschaft, geleitet durch die GIZ (Chile), der Jordanisch-Deutschen Energiepartnerschaft, geleitet durch die GIZ (Jordanien), der Konrad-Adenauer-Stiftung, Regionalprogramm Energiesicherheit und Klimawandel Subsahara-Afrika (Kenia), der Asia School of Business (Malaysia) und dem Institute of Strategic and International Studies (ISIS) Malaysia.
Die Workshops dienten den Akteuren als Plattform, um die Abhängigkeiten zwischen den vordefinierten Variablen zu diskutieren, genauer gesagt zwischen ihren verschiedenen möglichen Ausprägungen. Zum Beispiel: Wenn die Wirtschaftsstruktur liberalisiert wird, was bedeutet das für die Qualität der Netzinfrastruktur? Wie beeinflusst es die öffentliche Meinung über erneuerbare Energien? Und außerdem: Wenn die Wirtschaft sehr staatszentriert strukturiert ist, wie wirkt sich das auf die anderen Variablen aus? Durch diese Diskussionen konnten wir Interdependenzen zwischen den einzelnen Variablen erforschen und dadurch Zusammenhänge innerhalb des Systems erkennen.
Die Software "Scenario Wizard"3 hat uns geholfen, diese Interdependenzen zu verstehen, indem sie daraus konsistente Szenarien berechnete. Konsistent bedeutet in diesem Fall, dass die Variablen im jeweiligen Szenario Ausprägungen annehmen, die sich gegenseitig verstärken. Je nach Fallstudie haben wir unterschiedlich viele konsistente Szenarien gefunden, zwischen 3 und 31. Dank der Software konnten wir auch die gesamte Systemdynamik verstehen sowie Schlüsselvariablen und Ansatzpunkte für politische Maßnahmen identifizieren. Diese Erkenntnisse dienten als Grundlage für die zweite Runde der Stakeholder-Diskussionen. Diese fanden in Form von eintägigen Online-Workshops mit den Teilnehmenden des ersten Workshops und weiteren Stakeholdern statt. In einem Fall wurden statt eines Online-Workshops persönliche Gespräche mit Repräsentant:innen von Interessengruppen geführt. In dieser Phase der Untersuchung diskutierten die Beteiligten die Ergebnisse des ersten Workshops. Es wurde analysiert, welche Möglichkeiten und politischen Optionen zur Verfügung stehen. Das Resultat waren politische Empfehlungen, wie wünschenswerte Transitionsszenarien erreicht werden könnten. Einer der wichtigsten Ansatzpunkte für Jordanien war zum Beispiel die regionale Zusammenarbeit, die durch die Dynamiken des Gesamtsystems die Liberalisierung der Strommärkte ermöglichte. Die Workshop-Teilnehmenden waren sich einig, dass dies ein wichtiger Faktor sei, der bereits im Fokus der Politik stehe. Eine weitere Zusammenarbeit könne aber, auch im Hinblick auf die Marktinfrastruktur und die Anbindung an Europa, dem Land helfe, nachhaltigere Technologien zu integrieren.
Und jetzt? Die nächsten Schritte
Derzeit arbeitet unser Team an Policy Briefs und wissenschaftlichen Publikationen für die Fallstudien. Darin wird das Vorgehen ausführlicher beschrieben und die Ergebnisse und Auswirkungen für jedes der Länder hervorheben. Die Form der Ergebnisse wird auch an die Bedürfnisse der lokalen Interessengruppen und Partner angepasst. Ihre Vorschläge, wie eine breite Wirkung im jeweiligen Kontext erzielt werden kann werden berücksichtigt, z. B. die Organisation einer Sitzung mit dem zuständigen Ministerium zur Präsentation der Ergebnisse.
Die aktuellen Entwicklungen des Projekts werden auch auf der IASS-Homepage und auf unserem Twitter-Account zu finden sein.
[1] siehe Weimer-Jehle et al. (2016): Context scenarios and their usage for the construction of socio-technical energy scenarios. Energy. 111, 956-970. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0360544216306909
[2] Cross-Impact Bilanz Analysis (CIB) wurde am Zentrum für Interdisziplinäre Risiko - und Innovationsforschung (ZIRIUS) der Universität Stuttgart entwickelt. Die Webseite https://www.cross-impact.org/ gibt einen guten Überblick über die Methode
[3] Die Software steht frei zum Download zur Verfügung: https://www.cross-impact.org/english/CIB_e_ScW.htm