Digitalisierte Wirtschaft für eine nachhaltigere Zukunft
23.06.2022
Digitale Transformation der Wirtschaft
In vielen Ländern stand die wirtschaftliche Entwicklung in den letzten zehn Jahren im Zeichen der digitalen Transformation. Zahlreiche große Ökonomien haben ihre eigenen nationalen Konzepte und Strategien für die breite Anwendung digitaler Technologien in der fertigenden Industrie entwickelt – wie bspw. das deutsche Konzept „Industrie 4.0“ oder die chinesische Industriestrategie „Made in China 2025“.
In vorherigen Blogbeiträgen der IASS-Forschungsgruppe „Digitalisierung und Transformation zur Nachhaltigkeit“ haben wir bereits einige Ansätze beleuchtet, wie die Digitalisierung der Industrie sozial-ökologisch gestaltet werden kann und inwieweit die Ressourcenverbräuche dadurch beeinflusst werden. Die wichtigsten Leitprinzipien bei der industriellen Transformation müssen dabei Dematerialisierung und Dekarbonisierung sein. Ziel der Dekarbonisierung ist die Reduktion von klimaschädlichen Gasen, vor allem CO2. Bei der Dematerialisierung geht es darum, wirtschaftliche Produkte und Dienstleistungen mit einem Minimum an Materialeinsatz zu erzeugen und so weit wie möglich auf umweltverträgliche Materialien oder Prozesse zu setzen.
Um die bisherigen Praxiserfahrungen mit der digitalisierten Industrie und die dort bestehenden Erwartungen im Hinblick auf die Nachhaltigkeitsauswirkungen wissenschaftlich erfassen zu können, hat die Forschungsgruppe „Digitalisierung und Transformation zur Nachhaltigkeit“ eine internationale Studie in China, Brasilien und Deutschland durchgeführt. Deren Ergebnisse zeigen deutlich, dass die allgemein hohen Erwartungen nicht mit den tatsächlich gemachten eher moderaten Erfahrungen zusammenpassen. Die befragten Unternehmensvertreterinnen und -vertreter aus einer Vielzahl von Industriesektoren und Unternehmen unterschiedlicher Größe erwarten, dass die Digitalisierung generell zu einer besseren Umweltbilanz ihres Unternehmens beiträgt (siehe Abbildung 1). In Deutschland und Brasilien ist dieser Anteil bei Unternehmen mit mehr als 5000 Mitarbeitenden besonders hoch, wobei große Unterschiede zwischen den einzelnen Industriesektoren festgestellt wurden. Die konkret im Unternehmen gemachten Erfahrungen zeichnen jedoch ein weniger positives Bild: so führen die genutzten digitalen Technologien bisher kaum zu einer Verbesserung der Ressourceneffizienz oder einer Reduzierung der Energieverbräuche. (Beier et al., 2022a)
Abbildung 1: Verteilung der Erwartungen der befragten Praxisexpert:innen im Hinblick auf die Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die ökologische Nachhaltigkeit
Die Studie liefert ferner Belege dafür, dass sich die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Personalbedarf je nach Arbeitsbereichen unterscheiden. In Bereichen, die im Allgemeinen mit einem größeren Anteil an vergleichsweise gering qualifizierten Arbeitskräften assoziiert werden, wird vorwiegend ein Rückgang des Personalbedarfs erwartet (siehe Abbildung 2). Das deutet auf eine zunehmende Polarisierung zwischen hoch- und geringqualifizierten Arbeitskräften in Bezug auf die Beschäftigungsmöglichkeiten hin. Dieser Effekt ist vor allem in größeren Unternehmen zu beobachten. Darüber hinaus wird in allen Arbeitsbereichen ein Anstieg der erforderlichen Mitarbeiterqualifikationen erwartet. (Beier et al., 2022b)
Abbildung 2: Veränderung des Personalbedarfs durch Industrie 4.0 in den Bereichen Entwicklung, Fertigung und Montage
Die Auswirkungen der breiten Anwendung digitaler Technologien in der Industrie sind also nicht einfach zu überschauen. Ein kategorisches Paradigma, wonach ein höherer Digitalisierungsgrad automatisch zu nachhaltigeren Produktionsweisen führt, ist aus heutiger Sicht eher kritisch zu beurteilen. Es empfiehlt sich, immer den spezifischen Anwendungskontext genau zu analysieren, um unbeabsichtigte Nebeneffekte des Einsatzes digitaler Technologien zu vermeiden.
Digitalisierung internationaler Entwicklung: mit Augenmaß in eine nachhaltigere Zukunft investieren
Digitale Technologien wirken sich auch auf die internationale Entwicklung aus: Sie helfen dabei Bevölkerungsgruppen sowohl in städtischen als auch in ländlichen Umgebungen zu erreichen und sie sind für sehr viele Entwicklungsthemen und -sektoren relevant. Daher sehen viele Regierungen und internationale Organisationen in der Digitalisierung ein großes Potenzial für die sozioökonomische Entwicklung und setzen hohe Erwartungen in die Digitalisierung der Wirtschaft, um insbesondere die Entwicklung des Industrie- und Dienstleistungssektors voranzutreiben (Matthess & Kunkel, 2020). Es besteht jedoch das Risiko, dass sich mit der wirtschaftlichen Rationalisierung und Effizienzsteigerung die bestehende digitale Kluft (Beier et al., 2020) zwischen den weniger entwickelten und den technologisch fortgeschritteneren Ländern noch weiter vergrößert. Zumal diese drastischen ökonomischen Veränderungen auch mit den lokalen sozialen und kulturellen Werten in Einklang gebracht werden müssen.
Bestimmte digitale Technologien und Dienste können zwar die Integration in Wirtschaftsgeflechte und die Chancengleichheit zwischen den Akteuren verbessern, aber es besteht das Risiko, dass diese Chancen aufgrund von wirtschaftlichem Machtgefälle, Versagen der Verwaltung oder der Vernachlässigung anderer kontextueller Faktoren nicht genutzt werden können. Obwohl in der Literatur viele Möglichkeiten auch für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) durch die Anwendung digitaler Technologien genannt werden, kommen viele dieser Unternehmen nicht über die Einstiegsebene hinaus, beispielsweise aufgrund der hohen Kosten für die erforderliche Infrastruktur oder der sich ständig weiterentwickelnden technologischen Anforderungen. (Ahmad et al. 2015)
Die Ausbalancierung zwischen Chancen und Risiken durch digitale Technologien und Dienste für Gerechtigkeit und Inklusion hängt auch von den lokalen Bedingungen ab. Um die sich entwickelnden Muster des Aufbaus und der Nutzung digitaler Kapazitäten umfassend zu verstehen, sollten transdisziplinäre Ansätze gewählt werden, bei denen die Perspektiven, Gewohnheiten und Anforderungen von wissenschaftlichen und technischen, aber insbesondere auch nicht-akademischen und nicht-technologischen Expertinnen und Experten aus der Region, in der die Technologie eingeführt werden soll, Berücksichtigung finden. (Renn et al., 2021)
Die Digitalisierung der Industrie wird häufig als Motor für Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie als Wegbereiter für eine umweltfreundlichere Entwicklung angesehen. Das dies kein Automatismus ist, verdeutlichen Studien, die bspw. darauf hindeuten, dass der Zuwachs an Beschäftigung durch eine digitalisierte Industrie in Ländern mit geringem Einkommen weniger wahrscheinlich ist (z. B. Ugur & Mitra, 2017). Um an den Vorteilen der digitalen Transformation zu partizipieren, haben viele Regierungen und staatliche Stellen Strategien und Programme entwickelt, um das Entstehen einer wissensbasierten Wirtschaft zu fördern. Die Förderung von Bildung und Forschung, die Unterstützung der Gründung innovativer Unternehmen und die Modernisierung der Elektrizitäts- und Telekommunikationsinfrastrukturen sind bevorzugte Mittel zu diesem Zweck.
Schlussfolgerungen
Wir befinden uns inmitten zweier globaler Transformationen, die parallel stattfinden: die digitale Transformation und die Transformation hin zu einer nachhaltigeren Entwicklung. Eine der größten Herausforderungen bei der Gestaltung dieses Wandels wird darin bestehen, die digitale Kluft zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden zu verringern. Den Mustern der traditionellen Industrialisierungspfade zu folgen, könnte für viele Entwicklungsländer in dieser Hinsicht wirtschaftlich keine kluge Wahl sein.
Eine der großen Herausforderungen in diesem Transformationsprozess besteht darin, die entsprechenden Maßnahmen so zu gestalten, dass sie die Eingliederung in globale Wertschöpfungsnetzwerke fördern und gleichzeitig die bereits bestehende digitale und soziale Kluft durch diese Maßnahmen nicht noch verschärfen. Wenn es darum geht, die Konzepte der internationalen Entwicklung und der Nachhaltigkeit in die Politik zu integrieren, sollte unbedingt auch das Konzept der nachhaltigen Entwicklung berücksichtigt werden. Daher sollten sich alle politischen Maßnahmen, die diese beiden Konzepte miteinander verbinden wollen, an den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) orientieren, um sicherzustellen, dass die angestrebte sozioökonomische Entwicklung nicht nur zukunftsorientiert, sondern auch auf das Wohl von Menschen und Umwelt ausgerichtet ist.
Der Aufbau einer vitalen digitalen Wirtschaft muss mit förderlichen Rahmenbedingungen einhergehen, die die "digitalen Kompetenzen" stärken, aber auch unterstützende "Politiken und Regelungen" vorsehen, die die Entwicklung innovativer digitaler Hard- und Softwarelösungen sowie digitaler Geschäftsmodelle fördern. Die Politik muss jedoch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, technologischem Fortschritt und der Schaffung bzw. dem Erhalt von Beschäftigungsmöglichkeiten finden, um sicherzustellen, dass dieser Wandel letztlich integrativen Charakter hat.
Es besteht die Sorge, dass die Digitalisierung zu einer geringeren Annäherung in der internationalen Zusammenarbeit führen könnte. Um diesen Effekt zu verringern und Inklusion zu erreichen, ist die Entwicklung von Fertigkeiten in Ländern mit niedrigem Einkommen absolut notwendig. Vor dem Hintergrund dieser komplexen Herausforderungen sollte die Entwicklung zukünftiger Strategien daher unter Einbindung von Handelnden aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft aus den jeweils beeinflussten Regionen erfolgen, um zu klären, welche technologie- und sektorspezifischen Wechselwirkungen zu vorteilhaften Verknüpfungen zwischen Prozessen des Strukturwandels und der Digitalisierung in Ländern des Globalen Südens führen werden. Vor allem aber muss der laufende digitale Wandel politisch so gestaltet werden, dass die digitalen Technologien die Verbesserung von Bildung, Gesundheitssystemen und Lebensgrundlagen unterstützen und gleichzeitig zu einer ökologisch nachhaltigeren und integrativen Lebensweise beitragen.
Referenzen
Ahmad, S. Z.; Bakar, A. R. A.; Faziharudean, T. M.; Zaki, K. A. M. (2015). An Empirical Study of Factors Affecting e-Commerce Adoption among Small- and Medium-Sized Enterprises in a Developing Country: Evidence from Malaysia. Information Technology for Development, 21:4, 555-572. DOI: 10.1080/02681102.2014.899961. Link
Beier, G.; Matthess, M.; Guan, T.; de Oliveira Pereira Grudzien, D. I.; Xue, B.; Pinheiro de Lima, E.; Chen, L. (2022a): Impact of Industry 4.0 on corporate environmental sustainability: comparing practitioners’ perceptions from China, Brazil and Germany. Sustainable Production and Consumption, (Vol. 31, pp. 287–300). DOI: 10.1016/j.spc.2022.02.017. Link
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Matthess, M.; Kunkel, S. (2020). Structural change and digitalization in developing countries: Conceptually linking the two transformations. Technology in Society (Vol. 63, p. 101428). Elsevier BV. DOI: 10.1016/j.techsoc.2020.101428. Link
Renn, O.; Beier, G.; Schweizer, P.-J. (2021): The opportunities and risks of digitalisation for sustainable development: a systemic perspective. GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society, 30(1), 23–28. doi: 10.14512/gaia.30.1.6. Link
Ugur, M.; Mitra, A. (2017). Technology Adoption and Employment in Less Developed Countries: A Mixed-Method Systematic Review. World Development (vol. 96, p. 1-18). DOI: 10.1016/j.worlddev.2017.03.015. Link