Lehren für die partizipative Stadtentwicklung
28.10.2022
Seit 2020 ist ein Abschnitt der Friedrichstraße für Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad geöffnet und für dem Autoverkehr geschlossen. Das Berliner Verwaltungsgericht hat im Oktober verkündet, dass auf diesen circa 500 Metern der Friedrichstraße wieder Autos fahren sollen, weil es aktuell keine Rechtsgrundlage für diese Sperrung gebe. Geklagt hatte ein Aktionsbündnis von Gewerbetreibenden.
Jenseits des juristischen Streits entflammt durch dieses Urteil wieder die Debatte darüber, welche Rolle der private Autoverkehr für den Einzelhandel in der Friedrichstraße spielt. Kritiker wie der Handelsverband Berlin-Brandenburg begrüßten es, dass Autos wieder in der gesamten Friedrichstraße fahren sollen. Denn aus Sicht von Gewerbetreibenden sind die Schwierigkeiten der Händler:innen in der Friedrichstraße und Umgebung auf den Verkehrsversuch „Flaniermeile“ zurückzuführen. Dieser Streit begleitete den Verkehrsversuch von Anfang an.
Diese Kritik ist für Wissenschaftler:innen überraschend. In der internationalen Literatur finden sich viele Belege, dass Händer:innen von Fußgängerzonen, Busspuren und Radwegen eher profitieren - auch wenn dafür Autospuren oder Autostellflächen umgewidmet werden. In Nordamerika ist dies ausgiebig in der wissenschaftliche Literatur dokumentiert (etwa hier oder hier). In England sind ähnliche Ergebnisse zu finden, zum Beispiel in London oder auch in Bristol. Auch in spanischen Städten steigt der Umsatz im Einzelhandel durch die Einrichtung von Fußgängerzonen.
In Deutschland ist es nicht anders, wie Prof. Rolf Monheim ausführlich aufzeigt (heute sowie auch 1977). Eine Studie aus 2019 zeigt zudem, dass die Kund:innen, die mit dem Auto zum Einkaufen im innerstädischen Einzelhandel fahren, für den geringsten Anteil der Umsätze sorgen. Auch nutzen nicht mehr als 13 Prozent der Senior:innen und Menschen mit Mobilitätseinschränkungen für das Einkaufen in der Innenstadt ein Auto. Eine Studie des IASS zeigt: In Berlin gelangen die allermeisten Kund:innen ohne Auto zum Einzelhandel. Zudem ist im Abschlussbericht zu dem Verkehrsversuch in der Friedrichstraße festgehalten, dass auch während des Verkehrsversuchs die Autostellflächenangebote nie annähernd ausgelastet waren und – ähnlich wie anderswo in Berlin – das Auto nur 11 Prozent der Passant:innen für die Anreise in der Friedrichstraße dient.
Richtig ist allerdings, dass es den Geschäften in und um der Friedrichstraße nicht unbedingt gut geht, was unter anderem die Kläger darauf zurückführen, dass private Autos nicht mehr in dem 500 Meter lange Abschnitt der „Flaniermeile“ hineinfahren dürfen. Doch die Situation ist etwas komplexer: Der Verkehrsversuch begann 2020, als die Covid-19 Pandemie noch am Anfang stand. Einige Daten deuten darauf hin, dass sich die Friedrichstraße in der Pandemie im Verhältnis nicht schlecht geschlagen hat und schlägt. Es seien immer mehr Menschen, die sich dort aufhielten, und sie blieben länger, hat eine Auswertung ergeben.
Allerdings mussten in der Friedrichstraße laut Medienberichten 19 Geschäfte seit Beginn des Verkehrsversuchs schließen. Die Kritiker der offenen Friedrichstraße sehen die Schuld dafür im Verkehrsversuch. Aber diese Kritik greift zu kurz, die Probleme bestehen schon sehr viel länger: Bereits 1996 erschien ein Artikel in der TAZ mit dem Titel: Berliner Renommiermeile im Abseits. Darin heißt es, dass die Friedrichstraße schon lange keine Konkurrenz für andere berühmte Berliner Einkaufsstraßen wie dem Kufürstendamm darstelle. Es wird über „gähnende Leere“ bei den Gewerbeflächen berichtet, von 40 Prozent Leerstand in einem Quartier, das an das Gebiet des aktuellen Verkehrsversuchs angrenzt. 2009 stand in einem Artikel im Tagesspiegel: „Wegen steigender Mieten geben Händler in der Friedrichstraße auf“. Die Mieten waren damals bereits zu teuer für Gewerbetreibenden und die Angebote – Gewerbeflächen, die sich über mehrere Etagen erstrecken – für den Einzelhandel problematisch. 2019, noch vor dem Verkehrsversuch in der Friedrichstraße, lautete der Titel eines Artikels in der Süddeutsche Zeitung „Leerstand statt Luxus“. Damals, als die Autos noch das Straßenbild dominierten, wurde beklagt, dass „immer mehr Geschäfte aufgeben“. Die Süddeutsche Zeitung verweist auf die Untersuchung eines Immobiliendienstleisters, in der festgestellt wurde: „der Leerstand in der Friedrichstraße (beträgt) mittlerweile knapp 25 Prozent. Er ist damit mehr als doppelt so hoch wie der deutsche Durchschnitt.“ Dass 500 Meter von der Friedrichstraße entfernt 2014 die Mall of Berlin öffnete – mit Platz für 300 Geschäfte und günstigeren Mieten – dürfte die Lage in der Friedrichstraße ebenfalls nicht verbessert haben.
Die Herausforderungen, vor denen die Gewerbetreibenden in der Friedrichstraße stehen, existierten also lange vor dem Verkehrsversuch, der 2020 startete. Auch die Debatte, was zu tun sei, um die Friedrichstraße aufzuwerten, ist ebenfalls älter als der Verkehrsversuch. So machte der ADAC bereits 2016 den Vorschlag, in der Friedrichstraße eine Fußgängerzone einzurichten.
Die langjährige Debatte und der aktuelle Streit vor Gericht zeigen, dass die Situation in der Friedrichstraße alles andere als optimal ist. Einen Verkehrsversuch zu starten, war im Prinzip das richtige Vorgehen: Konzept entwickeln, temporär umsetzen, Lehren ziehen, Konzept anpassen und dann eine dauerhafte Neugestaltung, das ist genau die Art Prozess, die wir für gute Stadträume brauchen. Denn wir tun uns schwer damit, uns alternative Stadträume theoretisch vorzustellen und lehnen sie daher ab. Partizipation anhand von Erfahrungen aus solchen Verkehrsversuchen, statt abstrakt über Modelle auf dem Papier zu streiten, das kann uns in der Stadtentwicklung sehr viel weiterbringen. Aber solche ko-kreativen Stadtentwicklungsprozesse brauchen echte Offenheit auf allen Seiten, die eigene Position im Lichte der Erfahrungen zu überdenken. Diese Offenheit gab es in der Friedrichstraße auf keiner Seite. Die meisten Akteure, die anfangs dagegen waren, sind immer noch dagegen, die Befürworter immer noch dafür. Die Debatte wird verengt auf die Frage, welche Rolle der Autoverkehr für den Einzelhandel spielt, dabei sind die Probleme - wie beschrieben - sehr viel komplexer. Wir können die Lehre daraus ziehen, dass politisch-brisante und emotional besonders aufgeladene Themen wie die Berliner Friedrichstraße sich schlecht für diese Art der ko-kreativen Stadtentwicklung eignen.
Das Gute an dem Verkehrsversuch in der Friedrichstraße ist, dass die überwiegende Mehrheit – sowohl Kritiker als auch Befürworter – erkannt haben, dass sie nicht zurück zum alten Status-Quo von 2019 wollen. Das ist es zwar, was das aktuelle Gerichtsurteil vorschreibt, aber auf lange Sicht wird die Verkehrssituation in der Friedrichstraße anders aussehen als heute und auch anders als vor dem Verkehrsversuch. Wie auch immer es aussehen wird, das Verkehrskonzept allein wird das Gewerbe in der Friedrichstraße weder retten noch in den Untergang treiben. Es wird höchstens ein Faktor unter vielen sein.
Nichtsdestotrotz wäre eine dauerhafte Umgestaltung der Friedrichstraße zu einem Ort mit echter Aufenthaltsqualität gut für die Gewerbetreibenden. Wo Menschen sicher und gerne sind, bleiben sie länger und geben mehr Geld aus. Aber auch die ganze Stadt könnte profitieren: Multifunktionalität der Immobilien (warum nicht ein Paar Seniorenresidenzen in der Friedrichstraße?) sowie Bäume, entsiegelte Flächen, die weniger Hitze speichern und Versickerung ermöglichen, sowie weniger Autoverkehr tragen zu einer nachhaltigen, resilienten Stadt bei.