Wie Bürgerräte in Deutschland und Polen die Politik beraten
07.03.2024
Welche Rolle spielt die Stimme der Bürgerinnen und Bürger in der zeitgemäßen Politikberatung? Mit dieser Frage haben wir uns am Beispiel von Bürgerräten in Deutschland und Polen beschäftigt, die in den letzten Jahren an Popularität gewonnen haben.
In den klassischen Formen der Politikberatung sind die Bürgerinnen und Bürger nur selten als Impulsgeber eingebunden. Nun lassen sich in diesem Bereich Veränderungen beobachten, ein „partizipatorischer Umbruch“ sogar. Damit entsteht eine Art der Politik- und Gesellschaftsberatung, die eine aktivere Rolle für Bürgerinnen und Bürgern vorsieht. Es hängt jedoch von der Umsetzung ab, ob und wie das beratende Potential der Bürgerexpertise benutzt wird.
Erfahrungswissen von „Zufallsbürgern“ im Zentrum
In einem neuen Buchbeitrag analysieren mein Kollege Daniel Oppold und ich Bürgerräte aus dieser Sicht und behandeln die Frage, ob sie als eigenständige Form politikbezogener Gesellschaftsberatung gelten können. Bei einem genaueren Blick auf einige Bürgerräte, die in Deutschland und Polen bereits stattgefunden haben, zeigt sich, dass diese ein wirksames Format sein können, um die bestehende Landschaft der Politikberatung funktional zu erweitern. Ihre besondere Stärke ist die Schaffung von Räumen, in denen die Perspektive von per Los ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern und die gemeinschaftliche Ausarbeitung von Empfehlungen im Zentrum stehen. Diese Diskursräume und ihre Ergebnisse machen das Erfahrungswissen der Bürgerinnen und Bürger in kollektiver Form zugänglich und unterscheiden sich dadurch erheblich von anderen Formen der Beratung.
Die Verwirklichung des daraus erschließbaren Beratungspotenzials hängt jedoch von einer Reihe von Faktoren ab, die in jedem Einzelfall die Qualität des Prozesses und der daraus resultierenden Empfehlungen beeinflussen. Obwohl die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger eine primäre Rolle spielt, darf die Bedeutung der Begleitumstände und des Vorbereitungsprozesses nicht übersehen werden. Dazu gehört insbesondere die rechtliche Regelung und Einbindung des Gesamtprozesses in das institutionelle Ökosystem der Demokratie.
Beratung oder Entscheidungsmacht?
Beim Blick auf die polnischen, deutschen und internationalen Fallbeispiele von Bürgerräten sticht hervor, dass einige ein rein beratendes Mandat übersteigen: Auf (groß-)städtischer Ebene in Polen haben sich zum Beispiel manche Stadtpräsidenten dazu verpflichtet, jene Empfehlungen verbindlich umzusetzen, die innerhalb der Bürgerräte Zustimmungsraten von über 80 Prozent erhalten. Die praktische Erfüllung dieser Verpflichtungen hat sich an manchen Stellen als problematisch erwiesen, aber grundsätzlich erweitert diese Form der Selbstverpflichtung der demokratisch legitimierten Amtsträger und Gremien die Wirksamkeit des Beteiligungsprozesses erheblich und überträgt einen Teil der Entscheidungsmacht auf das Zufallsgremium – wenn auch indirekt. Die Einordnung von Bürgerräten als Form der Politik- und Gesellschaftsberatung kommt damit an eine Grenze. Denn im Gegensatz zu Expertenkommissionen oder Stakeholder-Beteiligungsprozessen wird damit dem Bürgerrat die Legitimität zuerkannt, als Form der deliberativen Demokratie qualitativ ähnliche Ergebnisse hervorzubringen wie die repräsentative Demokratie.
Doch auch wenn es im Falle der meisten Bürgerräte bei einem rein beratenden Auftrag bleibt, können sie Impulse für Entscheidungsprozesse setzen und den pluralistischen Diskurs um die weiteren Möglichkeiten zum Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen bereichern. Es ist dabei ausschlaggebend, im Vorfeld des Beteiligungsprozesses umfassend zu klären, wie die Empfehlungen des Bürgerrates von Politik und Verwaltung aufgegriffen werden. Um Frust oder Enttäuschung bei Beteiligten wie Beteiligenden zu vermeiden, ist es wichtig, eine gelungene Anbindung an Politik, Verwaltung, aber auch den gesellschaftlichen Diskurs zu erarbeiten. Es hat sich daher bewährt, im Vorfeld offizielle (möglichst konsensuale) Beschlüsse zur Nutzung eines Bürgerrats im zuständigen repräsentativ-demokratischen Gremium, also in den Stadt- oder Gemeinderäten auf der kommunalen Ebene, zu erwirken und transparent zu kommunizieren. Darüber hinaus soll optimalerweise die Leitfrage für den Prozess bereits aus einer partizipativ gestalteten Planung resultieren, die unterschiedliche Perspektiven, Ideen und Erfahrungen berücksichtigt.
Bottom-up-Initiativen zeigen Potential
Immer wieder werden Bürgerräte auch aus der Zivilgesellschaft heraus initiiert. Sowohl in Deutschland als auch in Polen finden sich Beispiele nationaler Bürgerräte, die „Bottom-up“ angeschoben wurden. Die Initiatoren dieser Prozesse setzen darauf, dass sie durch groß angelegte Begleitkampagnen sowie die kluge Nutzung politischer Möglichkeitsfenster dennoch Wirksamkeit entfalten können. Der von dem Verein Mehr Demokratie und weiteren Akteuren ins Leben gerufene „Bürgerrat Demokratie“ konnte beispielsweise in Deutschland als Vorreiterprozess auf diese Weise wichtige Erfahrungen mit Bürgerräten auf der Bundesebene generieren, Interesse für diese neue Beteiligungs- bzw. Beratungsform wecken und letztlich eine breite Debatte über die Erweiterung des bestehenden Institutionengefüges anregen. Der nachfolgend vom Bundestag einberufene „Bürgerrat zu Deutschlands Rolle in der Welt“ sowie die umfassende Ankündigung einer weiteren Erprobung und ggf. Verstetigung im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung sind als unmittelbare Erfolge des Pilotprojekts „Bürgerrat Demokratie“ zu werten.
Der Bottom-up initiierte nationale Bürgerrat zu Energiekosten in Polen folgte einer ähnlichen Logik: Es wurde ein aktuelles und drängendes Thema aufgegriffen, um zu demonstrieren, dass die Deliberation einer Gruppe von Zufallsbürgern, denen auch Expertenwissen zur Verfügung gestellt wird, hilfreiche Ideen und Lösungsvorschläge hervorbringen kann. Dadurch konnte das auf kommunaler Ebene bereits mehrfach erprobte Konzept der Bürgerräte landesweit an Bekanntheit gewinnen und weitere Anwendungen auf nationaler Ebene bewirken.
Mehr dazu, wie die Bürgerräte dabei helfen können, die beratende Stimme der Gesellschaft für den soziopolitischen Diskurs und die Entscheidungsfindung zu nutzen, finden Sie in unserer Publikation.
- Oppold, D., & Stasiak, D. (2024). Bürger(räte) in der Politikberatung in Deutschland und Polen. In A. Kopka, & D. Piontek (Eds.), Politische Expertenkultur in Deutschland und Polen (pp. 367-388). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43365-9_15
- Stasiak, D., & Oppold, D. (2022). Głos doradczy społeczeństwa: panele obywatelskie w Niemczech i Polsce. In A. Kopka, & D. Piontek (Eds.), Polityczna kultura ekspercka w Polsce i w Niemczech. Politycy, doradcy i lobbyści w perspektywie porównawczej (pp. 333-353). Poznań: Wydawnictwo Naukowe Wydziału Nauk Politycznych i Dziennikarstwa Uniwersytetu im. Adama Mickiewicza.