Headline: Die Salzminen in Maceió, Umweltrassismus und die Fallstricke unternehmerischer Nachhaltigkeitsdiskurse

Eine jahrzehntelang kaum beachtete Bodensenkungsgefahr hat in Maceió zu einer Katastrophe geführt.
Eine jahrzehntelang kaum beachtete Bodensenkungsgefahr hat in Maceió zu einer Katastrophe geführt. Shutterstock/Luis War

Marginalisierte Bevölkerungsgruppen sind in allen Phasen des Kunststoffproduktionszyklus - insbesondere bei der Gewinnung von Rohstoffen - asymmetrisch betroffen. Solche Umweltauswirkungen reproduzieren und verstärken bereits bestehende rassistische und sozioökonomische Ungleichheiten. Dies zeigt sich deutlich in Maceió, der Hauptstadt des nordöstlichen brasilianischen Bundesstaates Alagoas: Seit 2019 waren rund 60.000 Menschen gezwungen, ihren Wohnort zu verlassen, nachdem bergbaubedingte Erdstöße und Bodensenkungen die Strukturen von Häusern und anderen Gebäuden rund um die Lagune Mundaú in Gefahr gebracht haben. In der Folge sind ganze Stadtteile entvölkert worden.

"Können Sie sich vorstellen, in einem Viertel zu wohnen und das ganze Viertel verschwindet?", fragte Mateus Costa, ein lokaler Unternehmer, der durch die Erdbeben zwei Geschäfte verloren hat, in einem Interview mit Gésio Passos von Rádio Nacional. "Das Viertel gibt es nicht mehr. Es gibt nichts mehr. Das Geschäft ist um 80 % zurückgegangen. Wenn die Einnahmen zurückgehen, kann man nicht mehr den gleichen Standard halten, den man hatte. Das beeinträchtigt einen in jeder Hinsicht. Psychologisch gesehen, bin ich am Boden zerstört. Man sagt zwar, dass Männer nicht weinen, aber ein bisschen weinen muss man schon.“

Cleber Bezerra, ein Rentner, der sein ganzes Leben in der Nähe der Lagune verbracht hat, "musste weg, als die Beben begannen". Bezerra besitzt auch ein weiter entferntes Haus, aber sein Arbeitsweg ins Stadtzentrum von Maceió dauert jetzt viermal so lange, und er wohnt jetzt weit weg von Familie und Freund*innen. "Man wird im Viertel geboren, man wächst im Viertel auf, man findet Freunde. Wenn man in ein anderes Viertel zieht, fängt man wieder von vorne an. Es ist nicht dasselbe", erklärte Bezerra im Rádio Nacional.

Dies sind Einblicke in eine umfassendere Tragödie im Zusammenhang mit der Gewinnung von Steinsalz, einem wichtigen Rohstoff für Polyvinylchlorid (PVC) und andere Kunststoffprodukte.

Steinsalz im brasilianischen Handel

Im Jahr 2018 exportierte Brasiliens größtes Petrochemieunternehmen Braskem über 1,3 Millionen Tonnen Polymere, wobei fast die Hälfte dieser Menge für Argentinien, Paraguay und Uruguay bestimmt war. In den letzten Jahren hat sich Polyethylen - die gängigste Kunststoffsorte, die hauptsächlich für Verpackungen verwendet wird - zum führenden Polymerexport des Unternehmens entwickelt. Die Chloralkalianlage in Maceió ist ein bedeutender Produzent von Chlor und Natronlauge, die für verschiedene Industriezweige, darunter auch die PVC-Produktion, unerlässlich sind. PVC ist aufgrund seiner niedrigen Produktionskosten, seiner hohen chemischen Beständigkeit, seiner günstigen mechanischen Eigenschaften und seiner Widerstandsfähigkeit gegenüber Wasser und Witterungseinflüssen sehr gefragt.

Ähnlich wie andere Rohstoffe können Kunststoffe eine bedeutende Quelle von Exporteinnahmen und damit von großer wirtschaftlicher Bedeutung für die Zahlungsbilanz eines Landes sein. Kunststoffartikel (in Form von Platten, Blechen, Folien, Bändern und Streifen) gehörten 2022 zu den wichtigsten Ausfuhren Brasiliens. Brasilien exportiert den Großteil seiner verarbeiteten Kunststoffe (Gummihandschuhe, Polyester usw.) in die Vereinigten Staaten, nach Peru und Paraguay.

Rechtliche Probleme

Braskem sieht sich potenziell mit Haftpflichtforderungen in Höhe von insgesamt 34 Mrd. Real (6,9 Mrd. $) konfrontiert, die sich aus seinen Steinsalzabbauaktivitäten ergeben. Ein erheblicher Teil dieser Verbindlichkeiten - etwa 17,7 Mrd. Real (3,6 Mrd. USD) - wird dem Bundesstaat Alagoas geschuldet, mit dem Braskem noch eine Einigung erzielen muss. Bei der Steinsalzgewinnung des Unternehmens wurden im Laufe mehrerer Jahrzehnte 35 Bohrungen in der Nähe der Lagune Mundaú in Maceió durchgeführt.

Zudem sieht sich Braskem mit neuen Forderungen in Höhe von 997 Mio. Real (203 Mio. $) wegen Schäden konfrontiert, die durch seine Salzminen verursacht wurden. Das Unternehmen hat bereits 14,4 Mrd. Real (2,9 Mrd. USD) bereitgestellt, um Probleme im Zusammenhang mit Bodensenkungen zu lösen, die auf seine 40-jährige Salzabbautätigkeit in Maceió zurückzuführen sind. Von den insgesamt bereitgestellten Mitteln wurden 9,2 Mrd. Real (1,9 Mrd. USD) seit 2018 ausgezahlt, als sich die Krise durch die Bildung von Rissen in Straßen und Gebäuden in fünf Stadtvierteln verschärfte. Im Jahr 2019 stellte das Unternehmen daraufhin seine Salzabbauaktivitäten in der Region ein.

Eine vorausgesagte Tragödie

Die emeritierten Professoren Abel Galindo und José Geraldo Marques warnten erstmals 1980 davor, dass der Bergbau in diesem Gebiet ganze Stadtteile bedrohen könnte. Galindo war in den 1970er Jahren unter dem nicht demokratisch gewählten Gouverneur von Alagoas, Divaldo Suruagy, während der Militärdiktatur in Brasilien für den Umweltschutz zuständig. Galindo verfasste einen Bericht, in dem er sich gegen die Einrichtung von Steinsalzbergwerken in Maceió aussprach. Alle in diesem Bericht aufgezeigten potenziellen Probleme haben sich inzwischen bewahrheitet.

Bereits in den 1980er Jahren warnten Forscher der Bundesuniversität von Alagoas (UFAL) vor Bodensenkungen in den Stadtvierteln von Maceió, die durch den Abbau von Steinsalz verursacht wurden, und vor Bodensenkungen aufgrund des steigenden Grundwasserspiegels, der tief liegende Höhlen und Löcher unterspült. Eine weitere Studie, die 2011 in der Fachzeitschrift Engineering Geology veröffentlicht wurde, sagte voraus, dass der Boden in einigen Gebieten der Stadt um bis zu 1,5 Meter sinken könnte.

Die Zivilgesellschaft von Maceió kritisierte von Anfang an den ungeeigneten Standort der Minen, die sich in unmittelbarer Nähe zu bewohnten Stadtvierteln und nur wenige Meter von der Lagune von Mundaú, einem Ort großer biologischer Vielfalt, befinden. Nach dem Chemieunfall im Dezember 1984 in der Union Carbide Pestizidfabrik in Bhopal, Indien, warnten die Journalisten Érico Abreu und Mário Lima, dass sich in Maceió ein ähnlicher Vorfall ereignen könnte. Dennoch begann Braskem 1985 mit dem Ausbau des Werks, was zu einer erneuten öffentlichen Gegenreaktion führte, die damals von linksgerichteten Stadtratsmitgliedern und der NGO Movimento Pela Vida (Bewegung für das Leben) organisiert wurde.

Diese Probleme spitzen sich nun zu. Im Dezember 2023 erließ die brasilianische Bundespolizei 14 Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse in Maceió, Rio de Janeiro und Aracaju. Die Ermittlungen ergaben, dass bei den Bergbauaktivitäten am Standort Maceió „die in der wissenschaftlichen Literatur und in den jeweiligen Bergbauplänen festgelegten Sicherheitsparameter, die die Stabilität der Minen und die Sicherheit der an der Oberfläche lebenden Bevölkerung gewährleisten sollten, nicht eingehalten wurden“. Darüber hinaus prangerten die Aktivist*innen an, dass die zwischen Braskem und den lokalen Behörden getroffenen Vereinbarungen die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten nicht angemessen entschädigen. Die Aktivist*innen forderten außerdem, dass Braskem erst nach Zahlung einer angemessenen Entschädigung in den Besitz von Grundstücken gelangen darf, auf denen Eigentum beschädigt wurde.

Umweltrassismus

Es kann nicht genug betont werden, dass diese Geschichte kein Ausreißer ist, sondern die Regel. Marginalisierte Bevölkerungsgruppen sind in allen Phasen des Kunststoffproduktionszyklus asymmetrisch betroffen - insbesondere bei der Gewinnung von Rohstoffen. Solche Umweltkatastrophen - ein falscher Begriff, denn die Auswirkungen sind in diesem Fall nicht nur anthropogen bedingt, sondern wurden auch präzise vorhergesagt - reproduzieren und verstärken bereits bestehende ethnische und sozioökonomische Ungleichheiten.

Studien in den Vereinigten Staaten weisen auf ein erhöhtes Risiko von Chemieunfällen und toxischen Belastungen in Gebieten mit höherer Armut und nicht-weißer Bevölkerung hin, da die Verursacher von Umweltverschmutzung ihre Anlagen unverhältnismäßig häufig in Gemeinden mit niedrigem Einkommen und Minderheiten ansiedeln. "Es ist kein Zufall", erklärt Marcos Bernardino de Carvalho, Professor für Umweltmanagement an der Universität von São Paulo, "dass die Menschen, die diesem Prozess der Umweltzerstörung zum Opfer fallen, nicht nur verletzlich und verarmt sind, sondern [auch] Schwarz“.

Seit den 1950er Jahren hat die Rohstoffindustrie im globalen Süden expandiert. Ihre Produkte - Gebäude, Maschinen, Energieinfrastruktur usw. - durchdringen unser Leben. Diese Industrien schädigen die Umwelt, indem sie Flüsse stauen, Wälder abholzen, Luft und Wasser verschmutzen und damit die Gesundheit von Menschen und anderen Lebewesen gleichermaßen beeinträchtigen. Der Kapitalismus verlagert diese Schäden nach außen und behandelt sie als vernachlässigbare Kosten der Produktion. Solche Einstellungen werden durch die räumliche Trennung zwischen Erzeuger*innen und Verbraucher*innen noch verstärkt. In einer globalisierten Wirtschaft sind die Verbraucher*innen oft räumlich weit vom Produktionsprozess entfernt, was sie von der mit der Produktion verbundenen Zerstörung abschirmen kann.

Diese Dynamik wird durch die Rassismus-Komponente noch problematischer. Die größten Verbraucher befinden sich im globalen Norden und sind überwiegend weiß. Währenddessen treffen die extraktivistische Produktion und die damit verbundenen Umweltkosten vor allem die Gemeinschaften im Globalen Süden. Kurz gesagt, im globalen Kapitalismus leiden arme Schwarze Menschen, damit reiche (überwiegend von Weißen bewohnte) Länder ihren Komfort genießen können.

Extraktivistische Zerstörung

Maceió ist nur die jüngste in einer langen Liste von brasilianischen Gemeischaften, die unter der Ausbeutung durch den Rohstoffabbau leiden. Im Jahr 2019 brach beispielsweise der Brumadinho- Abraumdamm in Minas Gerais - der Abfälle aus der Eisenerzmine Córrego do Feijão aufnahm - und tötete 272 Menschen, vergiftete den Fluss Doce und setzte giftige Abfälle frei, die Hunderte von Kilometern bis in den Atlantik transportiert wurden. Bislang wurde niemand für die schlimmste Umweltkatastrophe des Landes zur Rechenschaft gezogen, die noch vor der durch die Steinsalzminen von Maceió verursacht wurde.

Der Brumadinho-Abraumdamm war für die brasilianische Eisenerzindustrie, die gemessen am Produktionsvolumen die drittgrößte der Welt ist, von zentraler Bedeutung. Die deutsche Automobilindustrie ist auf die Einfuhr von brasilianischem Eisenerz angewiesen. Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass Menschen im globalen Süden leiden, damit reichere Menschen im Norden ihren Luxus genießen können.

Brasilien ist nicht der einzige Staat, der diese Tragödien erleidet. Weltweit leiden unzählige Gemeinden noch lange nach dem Ende des Bergbaus unter den schädlichen Auswirkungen. Von Gabun bis Papua-Neuguinea hinterlässt der Bergbau in den betroffenen Gebieten nach wie vor ein unermessliches Erbe an Umweltzerstörung und sozioökonomischem Elend.

Eine kürzlich durchgeführte Analyse der UN hat ergeben, dass die Rohstoffgewinnung "für 60 % der globalen Erwärmung verantwortlich ist, einschließlich ... 40 % der Luftverschmutzung und mehr als 90 % des globalen Wasserstresses und des landbedingten Verlusts an biologischer Vielfalt". Trotz dieser erschreckenden Zahlen wird die weltweite Rohstoffförderung bis 2060 voraussichtlich um 60 % steigen.

Schlussfolgerung

Braskem gibt an, einen ehrgeizigen Nachhaltigkeitsplan zu haben, der sich an den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen und dem Pariser Klimaabkommen orientiert und sich auf sieben Dimensionen konzentriert: Gesundheit und Sicherheit, finanzielle und wirtschaftliche Ergebnisse, Vermeidung von Plastikmüll, Eindämmung des Klimawandels, betriebliche Ökoeffizienz, soziale Verantwortung, Menschenrechte und nachhaltige Innovation. Im September 2022 prahlte Marcelo Arantes de Carvalho, einer der globalen Vizepräsidenten von Braskem, auf LinkedIn damit, dass die führende brasilianische Finanzzeitung Braskem aufgrund seiner ESG-Praktiken zum „besten Unternehmen im chemischen und petrochemischen Sektor“ Brasiliens ernannte.

Während Zehntausende von Menschen in Maceió gezwungen waren, ihr Zuhause zu verlassen, schüttete Braskem seine gesamten Gewinne als Dividende an die Aktionäre aus. Das Unternehmen führte auch ein neues Logo ein, um "den Beginn einer neuen Phase zu markieren", in dem der Buchstabe B wie ein Pfeil geformt ist, der die zukunftsorientierte Strategie des Unternehmens anzeigt, während die blauen und gelben Farben "Aspekte wie die globale Reichweite, den Fokus auf Nachhaltigkeit und die Stärke menschlicher Beziehungen darstellen".

Wissenschaftler des Deutschen GeoForschungsZentrums haben die Bergsenkungen in Maceió seit Mitte der 1980er Jahre anhand von Satellitendaten untersucht und festgestellt, dass die Senkungen 2004-2005 begannen und seit 2018 zunehmen. Ihre in Scientific Reports veröffentlichte Studie führt die Senkungen vor allem auf den Salzabbau zurück.

Dies soll eine deutliche Erinnerung daran sein, dass die Behauptungen über die Nachhaltigkeit von Unternehmen oft kaum mehr als Feigenblätter sind, die das „Business as usual“ verschleiern sollen. Das Streben nach Profit ist unvereinbar mit einem echten Versuch, einen lebensfähigen Planeten zu sichern. Die mineralgewinnenden Industrien sind fest mit dem Kapitalismus verdrahtet, was die Ausbeutung von Umwelt und Gemeinschaften erfordert. Die Umwandlung von Rohstoffen in Geld ist „das Herzstück der modernen kapitalistischen Wirtschaft“. Daher sind die Umweltzerstörung und ihre sozialen Kosten nicht nebensächlich. Der Druck des Klimawandels wird durch die globale Wirtschaft noch verstärkt. Wir können die erstere nicht retten, ohne die letztere grundlegend zu verändern.
 

Neuen Kommentar schreiben

Hier ist nur eine externe URL zulässig, z.B. http://example.com
CAPTCHA
6
C
X
W
C
G
S
M
v
H
Bitte geben Sie die Zeichenfolge ohne Leerzeichen ein.