Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Kulturhauptstadt Chemnitz: Ein Mega-Event mit Bürgerbeteiligung?

16.07.2024

Teresa Erbach

Teresa Erbach

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Unter dem Motto "Alle Plätze sind Spielplätze" sollten bei der Apfelbaumparade Orte der Begegnung geschaffen werden.
Unter dem Motto "Alle Plätze sind Spielplätze" sollten bei der Apfelbaumparade Orte der Begegnung geschaffen werden.

Der Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ ist begehrt, aber in der Vergangenheit wirkte er sich meistens nicht positiv auf die Stadtbevölkerung aus, sondern sorgte im Schnitt sogar für ein Absinken der Lebenszufriedenheit. In Chemnitz wird mit der erfolgreichen Bewerbung für das Kulturhauptstadtjahr 2025 nun ein Ansatz verfolgt, der auf Bürgerbeteiligung setzt und den Zusammenhalt sowie die Lebensqualität und den Ruf der Stadt verbessern soll. Studierende eines Lehrforschungsseminars des RIFS und der TU Chemnitz haben einige Kulturhauptstadt-Projekte auf ihre soziale Nachhaltigkeit hin untersucht.

Während der Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ lange Zeit vor allem mit einem aus bildungsbürgerlichen (Hoch-)kulturformaten bestehenden Mega-Event in Verbindung gebracht wurde, ist der Ansatz in Chemnitz ein anderer. In der Definition der Ziele, der Zusammensetzung von Akteuren und der Gestaltung des Programms spiegelt sich das Vorhaben, vor allem ein Projekt für die lokale Bevölkerung zu machen, glaubwürdig wider. Allerdings lässt die laufende Vorbereitung des Kulturhauptstadtjahrs, während der bereits Teile des Programms stattfinden, Zweifel aufkommen.

Schon bei dem ersten Hauptprojekt, der Apfelbaum-Parade, offenbarte sich eine Kluft zwischen der Idee der Kulturhauptstadt und der Realität in Chemnitz. Das Konzept für die Parade, die quer durch die Stadt über Grundstücksgrenzen hinweg führen sollte, stammt von der Künstlerin Barbara Holub. Mit gemeinschaftlichen Entsiegelungs- und Pflanzaktionen wollte sie dazu beitragen, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl der Stadtbevölkerung gestärkt wird. Außerdem sollten Themen wie der Umgang mit der Umwelt, das Überschreiten von Grenzen und der Umgang mit Lebensmitteln adressiert werden. 

Die ersten Apfelbäume wurden ab November 2021 auch noch gepflanzt, aber wenige Monate später brach Stefan Schmidtke, Geschäftsführer der Kulturhauptstadt Europas 2025 gGmbH, das Projekt vorzeitig ab – zu groß war der Widerstand in der Bevölkerung. „In der Stadtgesellschaft gab es schließlich wenig Akzeptanz für den künstlerischen Aspekt dieses Projekts“, wurde Schmidtke in der Presse zitiert. Das Konzept wurde anschließend grundlegend überarbeitet und die Bäume werden nun an anderer Stelle gepflanzt. Eine Reihe von Künstler*innen kritisierte das Vorgehen in einem offenen Brief als intransparent und schädlich für die Stadt. Schon zu Beginn der Anlaufphase der Kulturhauptstadt wurde also deutlich, dass ein Kunst- und Kulturprogramm für die Stadt nicht automatisch verbindet, sondern auch erhebliche Konflikte aufwerfen kann.

Die Kulturhauptstadt Chemnitz möchte die gesamte Bevölkerung mitnehmen und die „stille Mitte“ aktivieren. Da scheint es nur konsequent, Widerstand aus der Bevölkerung ernst zu nehmen. Wie schwierig die Umsetzung dieses Vorsatzes in einer stark polarisierten Stadt wie Chemnitz aber ist, zeigt eine Analyse der Anlaufphase der Kulturhauptstadt Chemnitz von Brichzin et al., in der – mit den Worten Baeckers - „soziale Situationen [geschildert werden], in denen Kulturschaffende, Künstler:innen und Berater:innen in einem scheinbar entschlossenen Durcheinander versuchen, dem 'unbestimmten' Chemnitz und den Möglichkeiten einer künstlerischen Intervention auf die Spur zu kommen. Als käme es darauf an, jede vorschnelle Exklusion ebenso zu vermeiden wie eine zu eindeutige Inklusion, bestimmen sie die Kultur des ehemaligen sächsischen Industrie- und Ingenieurzentrums Chemnitz als eine Kultur des Machens, die es ermöglichen soll, der unbestimmten Gegenwart in eine offene Zukunft zu entkommen.“

Kann es aber überhaupt gelingen, mit Kulturhauptstadt-Projekten einen Großteil der Stadtbevölkerung zu erreichen? In der Vergangenheit besuchten in den unterschiedlichen Kulturhauptstädten immerhin etwa 50 bis 70 Prozent zumindest eine Kulturveranstaltung. Wie sehr die lokale Bevölkerung aber von dem Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ profitiert, ist fraglich. In der Vergangenheit sank die Lebenszufriedenheit der Stadtbevölkerung während der Laufzeit des Kulturhauptstadt-Programms sogar, wie eine Auswertung des Mannheim Eurobarometer Trend File 1970–2002 zeigt. Statistisch betrachtet spricht also wenig dafür, dass in Chemnitz eines der erklärten Ziele, „Lebensqualität im öffentlichen Raum der Chemnitzer Stadtviertel zu erhöhen“, erreicht wird. Als Gründe lassen sich solche vermuten, die auch bei anderen Mega-Events ausschlaggebend sind: Ein höheres Touristenaufkommen, Lärm, die Überlastung öffentlicher Plätze und Verkehrsmittel sowie ein Anstieg der Immobilienpreise. Besonders Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen, die auch seltener Kulturhauptstadt-Veranstaltungen besuchen, sind von den negativen Effekten betroffen. 

Die Kulturhauptstadt Chemnitz will aber nicht nur die Lebenszufriedenheit der lokalen Bevölkerung positiv beeinflussen, sondern auch die Attraktivität der Stadt erhöhen, europäische Grundwerte kultivieren, die kollektive Selbstwirksamkeit stärken und die sogenannte „stille Mitte“ aktivieren. Was letztere betrifft, zeigen sich zivilgesellschaftliche Akteure, die sich in der Kulturhauptstadt engagieren, skeptisch (Laux, 2021). Für das Ziel, europäische Grundwerte zu kultivieren, könnte gerade dieser Teil der Bevölkerung aber entscheidend sein. 

Gelingt es nicht, einen Großteil der Stadtbevölkerung von der Kulturhauptstadt zu überzeugen, könnten gesellschaftliche Spaltungen sogar verstärkt und europäische Grundwerte geschwächt werden. Denn wenn die Kulturhauptstadt als explizit europäisches Projekt zu einem Absinken von Lebenszufriedenheit führt und viele Bürger*innen sich mehr als Geschädigte denn als Mitgestalter*innen fühlen, dürften sich europakritische Bürger*innen eher noch mehr von den proeuropäischen Teilen der Stadtgesellschaft abgrenzen, die die Bewerbung für den Kulturhauptstadt-Titel initiiert und vorangetrieben haben.

Studierende des Lehrforschungsseminars „Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Chemnitz? Kulturhauptstadtprojekte erforschen“, das vom RIFS gemeinsam mit der TU Chemnitz durchgeführt wurde, haben sich Kulturhauptstadt-Projekte näher angeschaut und mit Anwohner*innen gesprochen.

Eine Gruppe von Studierenden, die sich mit einem künstlerischen Projekt in der Plattenbausiedlung Fritz-Heckert-Gebiet beschäftigte, hielt als Fazit des Forschungsprozesses fest, dass die Chemnitzer Bevölkerung der Kulturhauptstadt zunehmend kritisch gegenübersteht – auch diejenigen Bewohner*innen der Siedlung, die sich ehrenamtlich für Bürgerbeteiligung engagieren und damit ein wesentliches Ziel der Kulturhauptstadt teilen. Als Gründe werden vor allem schlechte Kommunikation und mangelhafte Umsetzung von Partizipationsprozessen seitens der Kulturhauptstadt vermutet. Es klaffe eine Lücke zwischen dem, was die Kulturhauptstadt sein will, und der Wahrnehmung der Bevölkerung. Dem Projekt selbst, in dem die Künstler*innen gemeinsam mit Anwohner*innen das Stigma der Plattenbauten und den Kontrast von Innen- und Außenwahrnehmung der „Platte“ reflektiert wollen, wird aber durchaus Potential bescheinigt. So stellten die Studierenden eine Relevanz des Themas fest und bewerteten künstlerische Methoden als vielversprechend, um neue Möglichkeiten der Kommunikation, der sozialen Praxis und der politischen Partizipation zu eröffnen.

Auch bei der Wiederbelebung des alten Flussbads, einem weiteren von Studierenden untersuchten Projekt, werden die Anwohner*innen bisher nicht eingebunden. Bei einer Befragung äußerten sie sich besorgt wegen möglicher Lärmbelästigung und ökologischen Schäden durch ein erhöhtes Besucheraufkommen. Den geplanten Bau einer neuen Brücke halten sie eher für überflüssig und auch die damit verbundenen Kosten werden von ihnen kritisch hinterfragt.

In der seit 2021 laufenden Vorbereitungsphase des Kulturhauptstadtjahrs zeigt sich ein ernüchterndes Bild. Das Ziel, nicht nur den Ruf der Stadt Chemnitz, sondern auch die Lebensqualität und den Zusammenhalt der Stadtbevölkerung zu verbessern und die europäische Identität zu stärken, war Ausgangspunkt für die Bewerbung auf den Titel Kulturhauptstadt gewesen. Dass das derzeit eher nicht gelingt, könnte schlichtweg an Fehlern in der Kommunikation und einem Mangel an funktionierenden Partizipationsprozessen liegen.

Möglicherweise ist das Konzept Kulturhauptstadt aber selbst mit dem Fokus auf Bürgerbeteiligung nicht geeignet zum Verfolgen der genannten Ziele. Denn zum einen handelt es sich um ein zeitlich begrenztes Mega-Event, das die üblichen Nachteile solcher Veranstaltungen für die Bevölkerung mit sich bringt. Zum anderen ist dem Anspruch, mit dem Kulturprogramm einen Großteil der Bevölkerung anzusprechen, in einer stark polarisierten Stadt wie Chemnitz nur schwer gerecht zu werden. Am Scheitern der Apfelbaumparade wird deutlich, dass künstlerische Formate Probleme oder schwelende Konflikte sichtbar machen können. Manchmal können sie auch zu ihrer Lösung beitragen, aber in Chemnitz ist davon bisher wenig zu sehen.
 

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