Systemische Risiken
22.04.2021
Moderne Gesellschaften sind „systemischen Risiken“ ausgesetzt, die als Pandemien, Finanzkrisen oder Klimawandel auftreten. Da sie komplex und vernetzt sind, fordern sie die konventionelle Risikoanalyse und das Risikomanagement besonders heraus. Die Gruppe „Systemische Risiken“ am RIFS analysiert Risiken und Potenziale von Transformationsprozessen für die nachhaltige Entwicklung und liefert im nächsten Schritt Politikempfehlungen für die Governance systemischer Risiken.
Was sind systemische Risiken?
Gesellschaftliche Transformationsprozesse wie die Energie- und Mobilitätswende sowie die Digitalisierung sind eng miteinander verknüpft und gehen nicht ohne inhärente Widersprüche vonstatten. Oft gilt es nicht nur, Nutzen-Risiko-Vergleiche vorzunehmen, sondern auch Risiko-Risiko-Abwägungen zu treffen. Mit konventionellen Risiken in Form von Unfällen oder Hochwasser hat die Menschheit in den vergangenen Dekaden immer besser gelernt umzugehen. Anders verhält es sich jedoch bei vernetzten, nichtlinearen und global wirkenden Risiken, wie sie sowohl vom globalen Finanzsystem oder Klimawandel als auch von der wachsenden Ungleichheit zwischen Arm und Reich ausgehen. Der Ausbruch von Covid-19 zur Jahreswende 2019/2020 ist ein aktuelles Beispiel für globale Risiken, die kritische Infrastrukturen einer Gesellschaft bedrohen.
Um diese Arten von Risiken zu berücksichtigen, hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Kategorie des „systemischen Risikos“ eingeführt. Systemische Risiken beziehen sich auf das Risiko von Zusammenbrüchen in einem gesamten System, im Gegensatz zu Zusammenbrüchen in einzelnen Teilen oder Komponenten. Der Kollaps eines für die Gesellschaft relevanten Systems wie etwa die Gesundheits- oder Energieversorgung hat zudem Auswirkungen auf weitere Teile der Gesellschaft, wodurch zusätzliche Schäden hervorgerufen werden. Hinzu kommt, dass die Wechselwirkungen zwischen Natur, Technologie und Gesellschaft konventionelle Naturgefahren, wie beispielsweise Tsunamis, potenziert, wenn sie auf dicht besiedelte Küsten und kritische Infrastrukturen wie auf Atomkraft- oder Elektrizitätswerke treffen. Die für Naturgewalten anfälligen technologischen Infrastrukturen potenzieren die Gefahr dann nochmals.
Systemische Risiken beziehen sich im Verständnis unserer RIFS-Teams auf potenzielle Bedrohungen, die systemrelevante Einheiten mit kritischer Bedeutung für die Gesellschaft unter Druck setzen. Die Auswirkungen von systemischen Risiken können durch Kaskadeneffekte weit über das Herkunftssystem hinausreichen und andere Systeme sowie Funktionen der Gesellschaft betreffen. Darüber hinaus können systemische Risiken durch mehrere Eigenschaften beschrieben werden, die sie von konventionellen Risiken unterscheiden.
Fünf Hauptmerkmale von systemischen Risiken
Komplexe Ereignisse wie systemische Risiken lassen sich erkennen:
- an der hohen Komplexität
- an grenzüberschreitenden Auswirkungen (Kaskadeneffekte)
- an der nicht-linearen Entwicklung mit Kipppunkten
- an der langen Stabilität bis zu einem Wendepunkt mit raschem Zusammenbruch des Gesamtsystems
- an tendenziell verminderter Risikowahrnehmung und inadäquaten Politikinstrumenten zur Steuerung von systemischen Risiken.
Dabei wird offensichtlich, dass systemische Risiken eine Herausforderung für die Governance darstellen, weil diese Risiken hochgradig vernetzt und komplex sind sowie non-linearen Entwicklungen folgen und in ihren Ursache-Wirkungs-Beziehungen nicht deterministisch sind.
Da sich systemische Risiken durch Komplexität und Interdependenz, Grenzüberschreitungen, Nicht-Linearität, Kipppunkte und Verzögerungen bei der Regulierung und Wahrnehmung auszeichnen, muss sich ein effektives Risikomanagement an Resilienz und Nachhaltigkeit orientieren. Erarbeitete Lösungen sollten zudem ethische Belange der Verteilungsgerechtigkeit reflektieren, um allen Betroffenen möglichst gerecht werden. So werden effektive, inklusive Governance-Strategien notwendig, um die Ziele der nachhaltigen Entwicklung zu verfolgen. Während beispielsweise wissenschaftliche Daten über den Klimawandel und seine Folgen reichlich vorhanden sind, fehlt es noch an Strukturen und Prozessen, die eine sinnvolle Integration in Entscheidungs- und Politikprozesse ermöglichen.
Das Konzept der transdisziplinären Risiko-Governance
Das Konzept der integrativen Risiko-Governance dient als Orientierungsrahmen, um die Herausforderungen von systemischen Risiken zu identifizieren. Transdisziplinäre Risiko-Governance zielt auf die Zusammenführung aller relevanten Arten von Wissen ab - sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wissenschaft -, um Lösungen für eine an Nachhaltigkeit und Resilienz ausgerichtete Gesellschaftstransformation zu finden und die demokratische Legitimität von Entscheidungsfindungsprozessen zu erhöhen.
Forschung zu Systemischen Risiken am RIFS
Die folgenden Projekte am RIFS untersuchen unter dem Dach der Gruppe „Systemische Risiken“ die Herausforderungen, die durch systemische Risiken entstehen:
- Systemische Risiken: Das Projekt identifiziert gemeinsame Strukturmerkmale von systemischen Risiken wie Klimawandel, Finanzkrise, Pandemie und Digitalisierung. Das Forschungsziel: Eine nachhaltige und verbesserte Governance beim Umgang mit Risiken, welche die Funktionsfähigkeit kritischer Infrastrukturen und Versorgungssysteme bedrohen.
- Katastrophenresilienz für extreme Klimaereignisse (DIRECTED): Die jüngsten Dürren und beispiellosen Überschwemmungen in Mitteleuropa haben gezeigt, wie anfällig wir für extreme Wetterereignisse sind. Neben dem Klimawandel als Ursache für häufigere und intensivere Wetterextreme verschärfen der demografische Wandel und die sozioökonomische Entwicklung die Auswirkungen. Das Projekt "Katastrophenresilienz für extreme Klimaereignisse" (DIRECTED) zielt darauf ab, mit einer verbesserten Risiko-Governance die Katastrophenresistenz europäischer Gesellschaften zu verbessern.
- REAL_DEAL: Das REAL_DEAL-Projekt (Reshaping European Advances towards green Leadership Through Deliberative Approaches and Learning) wird die aktive Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, Interessenvertreterinnen und Interessenvertretern am Europäischen Green Deal neu gestalten.Das Projekt bringt Forschende der deliberativen Demokratie aus einem breiten Spektrum von Disziplinen wie Politik, Recht, Ethik, Soziologie und Psychologie zusammen. Sie arbeiten transdisziplinär mit großen europäischen zivilgesellschaftlichen Netzwerken und anderen NGOs als Partner zusammen.
- Gesellschaftliche Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster im Umgang mit Plastik (abgeschlossen): Trotz moderner Müllentsorgung und Recycling geraten Kunststoffe in die Umwelt. Am RIFS untersuchen Forschende die Wahrnehmung der Problematik von Plastik in der Umwelt sowie das Kauf-, Nutzungs- und Entsorgungsverhalten. Auf dieser Basis erarbeiten sie transdisziplinäre Lösungsansätze.
- Wissenschaft, Innovation und Vorsorge durch Partizipation (RECIPES) (abgeschlossen): Das Vorsorgeprinzip soll verhindern, dass Gefahren für Umwelt und menschliche Gesundheit überhaupt erst entstehen: Frühzeitig und vorausschauend handeln, um Risiken zu minimieren ist das Motto. Kritiker des Vorsorgeprinzips argumentieren, dass es zu übermäßiger Vorsicht verleite und dadurch technische Innovation verhindere. Im Projekt RECIPES wird die Umsetzung des Vorsorgeprinzips in der EU analysiert, um seine künftige Anwendung mittels transdisziplinärer und partizipativer Methoden zu verbessern.