Kipppunkte als Indikatoren für positive Umbrüche
22.10.2024
Um die globalen Klimaziele einhalten zu können, sind radikale Veränderungen unvermeidlich. Das Konzept des Kipppunkts, bei dem eine kleine Veränderung einen raschen systemischen Wandel auslösen kann, wird daher auch in den Sozialwissenschaften diskutiert. Dass soziale Kipppunkte vorausgesagt werden können, um gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen, versucht ein Team des Forschungsinstituts für Nachhaltigkeit (RIFS) anhand von Fallbeispielen in einer wissenschaftlichen Publikation zu belegen.
Wenn es möglich wäre, sozio-technische Kippmomente im Vorhinein zu erkennen, wäre die Theorie der Kipppunkte für die Politikgestaltung nutzbar, so die These von RIFS-Wissenschaftlerin Franziska Mey. Wobei die Theorie der Kippmomente in den Sozialwissenschaften ein neues Konzept ist und positiv verstanden wird im Sinne von ‚Chancen des Wandels‘. Dagegen bringen Kipppunkte in den Klimawissenschaften negative Folgen fürs Erdsystem mit sich.
Um die These der Vorhersehbarkeit von Kippmomenten zu untermauern, hat das Autorenteam des Artikels „Anticipating socio-technical tipping points“ zwei Fälle sozialer und technischer Übergänge in unterschiedlichen Stadien und Kontexten analysiert: die Einführung von Elektrofahrzeugen und der Photovoltaik. „Ein Fazit unserer empirischen Untersuchung ist, dass sozio-technische Kipppunkte vorhersagbar werden, wenn wir die einzelnen Elemente beobachten, aus denen sich das System zusammensetzt. Hierbei ist es entscheidend, dass erst wenn sich die Gesamtheit aller Elemente qualitativ verändert hat, können wir davon sprechen, dass ein Kipppunkt erreicht wurde“, sagt Erstautorin Franziska Mey. Dazu zählt das Autorenteam sieben Elementkategorien wie etwa die technologische Leistung, die Relevanz der neuen Technik, die politischen und regulatorischen Vorgaben, aber auch die Sicht der Bevölkerung auf eine Technologie.
Wann kippt der deutsche Markt in Richtung E-Autos?
Am Fallbeispiel der Elektrofahrzeuge in Deutschland lässt sich dies erläutern: So fehlen noch viele dieser, in der Publikation in Tabelle 1 aufgeführten Elemente wie etwa eine flächendeckende Ladeinfrastruktur als auch die Legitimität von Elektrofahrzeugen in der Bevölkerung. So habe beispielsweise der öffentliche Diskurs über die Ökobilanz und die Umweltauswirkungen von batteriebetriebenen Fahrzeugen im Vergleich zu Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor in Deutschland einen Fokus auf die möglicherweise negativen Auswirkungen der Herstellung und Materialbeschaffung der Batterien gelegt. Dies habe zu einer öffentlichen Zurückhaltung geführt.
Eine geringe öffentliche Resonanz sei auch auf wahrgenommene Hindernisse in Bezug auf die Lebensdauer der Batterien und die Verfügbarkeit der Ladeinfrastruktur zurückzuführen. Diese Skepsis spiegele sich in öffentlichen Umfragen wider: Im Jahr 2022 würden etwa 24 Prozent der Deutschen den Kauf eines Elektrofahrzeugs in Betracht ziehen, während es im Jahr 2023 nur noch 17 Prozent waren. Nach dem abrupten Wegfall der staatlichen Subventionen im Jahr 2023 nahm das ohnehin schwindende Interesse an Elektromobilität weiter ab. Skeptische Einstellungen werden auch durch die wachsende rechtspopulistische Bewegung verbreitet, die Elektrofahrzeuge als Symbol für Klimaaktivisten und die Grünen darstelle. Sofern das Kippen eines Systems als eine Anhäufung von weitreichend positivem Feedback über eine Vielzahl von Faktoren verstanden werde, habe Deutschland folglich noch einen langen Weg vor sich bei den Elektrofahrzeugen, insbesondere in Bezug auf die Akzeptanz der neuen Technologie.
Der deutsche Markt für Photovoltaik kurz vorm „Kippen“
Im Photovoltaik-Sektor belegt die Analyse der Wissenschaftler wiederum, dass sich die meisten Systemelemente in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Deutschland gewandelt haben, sodass ein Wendepunkt erkennbar ist, auch wenn noch nicht eingetreten. Photovoltaik ist inzwischen eine der günstigsten verfügbaren Technologien zur Stromerzeugung, aber die Technologie sei nur ein Teil der Gleichung. Dies reiche für einen sektoralen Wandel noch nicht aus, so die Autoren. Sie weisen auf die mangelnde Kompatibilität mit bestehenden Märkten hin, die auf fossilen Brennstoffen basieren. Zudem erfolge die Erweiterung der Übertragungs- und Verteilungsnetze nicht im erforderlichen Tempo. „Wenn das Übertragungsnetz nun zügig modernisiert wird, sollte der Sektor aber kippen“, sagt Wissenschaftlerin Mey. Das Team mutmaßt, dass das technologische Element eines Systems das größte Potenzial habe, schnell zu kippen. Es müsse möglicherweise zuerst kippen, um einen Druck für nachfolgende Systemänderungen zu schaffen.
Die Autoren weisen darauf hin, dass sie mit ihrer Publikation veranschaulichen möchten, dass Kipppunkte tatsächlich antizipiert werden könnten. Um das entwickelte Rahmenkonzept jedoch zu vervollständigen, seien weitere Arbeiten zur Verfeinerung, Aktualisierung und Erweiterung für weitere Fälle erforderlich.
Publikation:
Franziska Mey, Diana Mangalagiu, Johan Lilliestam: Anticipating socio-technical tipping Points, Global Environmental Change Volume 89, December 2024. DOI: 10.1016/j.gloenvcha.2024.102911