Sicherheit zuerst: Was wir von Kopenhagen für die Verkehrswende lernen können
11.03.2021
Wer die Verkehrswende will, tut gut daran, von erfolgreichen Vorbildern zu lernen – zum Beispiel von Kopenhagen, einer der fahrradfreundlichsten Städte weltweit. Welche Diskurse trugen dazu bei, dass aus Kopenhagen die Fahrradstadt wurde, die sie heute ist? IASS-Wissenschaftlerin Theresa Kallenbach untersuchte die Berichterstattung in dänischen Tageszeitungen und fand heraus: Verkehrssicherheit stand im Zentrum des Diskurses, der Umweltschutz spielte keine Rolle.
Nach Jahrzehnten der autogerechten Stadtplanung demonstrierten in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren Zehntausende in Kopenhagen für mehr Radwege – mit Erfolg. Heute sind die Kopenhagenerinnen und Kopenhagener mit der Radweg-Infrastruktur in ihrer Stadt zufrieden: 84 Prozent bewerten laut einer Umfrage von 2018 die dänische Hauptstadt als gute Stadt für Radfahrende, 77 Prozent fühlen sich beim Radfahren sicher. 49 Prozent fahren mit dem Fahrrad zur Arbeit, Schule oder Ausbildung. Insgesamt werden 28 Prozent aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt. Zuvor war die Zahl der Radfahrenden in den 1950er und 1960er Jahren aufgrund des Autobooms und einer autozentrierten Verkehrspolitik deutlich eingebrochen.
Wie fand Kopenhagen den Weg zurück zur Fahrradstadt und was können wir heute für Deutschland daraus lernen? In einem IASS Discussion Paper beschreibt Theresa Kallenbach ihre Erkenntnisse aus einer Narrativanalyse der fünf auflagenstärksten Tageszeitungen Dänemarks aus den Jahren 1977, 1980 und 1983. Sie sieht vier Hauptgründe für die erfolgreiche Verkehrswende Kopenhagens:
1. Erzählungen über Verkehrssicherheit setzen den Bau von Radwegen auf die politische Agenda
Der dänische Diskurs war stark von Unfallmeldungen und Nachrichten über Verkehrssicherheit geprägt. Dies ist einerseits der tatsächlich sehr schlechten Sicherheitslage im Straßenverkehr der 1970er Jahre geschuldet, andererseits auch der Affinität von Medien gegenüber Themen, die einen hohen Nachrichtenwert haben. „Verkehrssicherheit ist hier herausragend geeignet: Das Thema ist lokal, aktuell, konkret und es betrifft sogar die Sicherheit von Leib und Leben. Das Thema Verkehrssicherheit ist daher auch im aktuellen Diskurs erfolgsversprechend, es dient häufig als Grundlage für Forderungen nach einer vom Autoverkehr getrennten Radinfrastruktur“, sagt Kallenbach.
2. Es geht auch ohne Umweltschutz – zumindest kommunikativ
Frühere Untersuchungen zeigen, dass es Erzählungen über Umwelt- und Klimaschutz mitunter schwer haben, sich im öffentlichen Mobilitätsdiskurs durchzusetzen. Im Umkehrschluss bedeutet das laut der Studienautorin, dass verkehrspolitische Forderungen für mehr Nachhaltigkeit an andere Ziele gekoppelt werden müssen, um in der tagesaktuellen politischen Debatte zwischen anderen Themen Gehör zu finden. Dass dies strategisch funktionieren kann, zeigt Kopenhagen: Umweltschutz spielte für die verkehrspolitische Debatte vor 40 Jahren keine Rolle. „Die damals erkämpften Radwege bieten aber nicht nur Schutz vor Unfällen, sondern auch den Platz und Anreiz für die umwelt- und klimafreundliche Mobilität des Radfahrens. Es zeigt sich: Umweltschutz lässt sich auch erreichen, ohne über ihn zu sprechen“, schlussfolgert Kallenbach.
3. Die Rede von „starken“ und „schwachen“ Verkehrsteilnehmenden priorisiert bauliche Lösungen
Es gibt laut der Forscherin eine Tendenz in aktuellen Debatten über den Radverkehr, dass Forderungen nach sicherer Radinfrastruktur mit Beschuldigungen der Radfahrenden begegnet wird. Diese führen über Rot, auf dem Gehweg und überhaupt entgegen allen Regeln. Derselbe Debattenverlauf findet sich im Kopenhagener Diskurs der 70er und 80er Jahre. Wichtig ist hier laut Kallenbach zweierlei: „Ein Verschieben der Debatte von der gebauten Infrastruktur auf individuelles Verhalten ist ein Problem, weil es die Debatte entpolitisiert. Es scheint, als ginge es darum, dass sich die Verkehrsteilnehmer und -teilnehmerinnen nur ordentlich verhalten müssten. Das lenkt von Mängeln an der Infrastruktur ab, die oft ein Fehlverhalten begünstigen oder sogar erforderlich machen, wenn beispielsweise Radfahrende auf dem Gehweg fahren, weil sie sich auf einer engen Straße mit viel Verkehr zu unsicher fühlen.“
Wenn dieses Fehlverhalten nicht einzelnen Personen, sondern einer Gruppe von Verkehrsteilnehmenden als feste Eigenschaft zugeschrieben wird, dann könne dies hingegen hilfreich sein: „Wenn die Radfahrenden ‚immer‘ die Zufußgehenden gefährden, dann brauchen sie offensichtlich einen eigenen Radweg. Wenn die Autofahrenden gar nicht anders können, als die Radfahrenden zu bedrängen, dann müssen sie baulich von den Radfahrenden getrennt werden.“ Dem diene auch die Bezeichnung von „starken“ und „schwachen“ Verkehrsteilnehmenden – hier wird eine verschieden hohe Gefährdung durch Unfälle pauschal bestimmten Gruppen zugeordnet, die dieser Logik nach baulich getrennt werden müssen, um sicher von A nach B zu kommen.
4. Gegner müssen zwar benannt werden – aber als potenzielle Verbündete
Eine Gegnerschaft zu den Autofahrenden war nicht Teil des dänischen Zeitungsdiskurses. Zwar wurden die Autos als stete Gefahrenquellen für die Radfahrenden beschrieben, doch erschienen sie als unberechenbare, unbelebte Objekte, die mittels der passenden Infrastruktur einzuhegen seien. Die Gegner in den Erzählungen waren andere: Kommunen etwa, die keine Radwege bauen, oder Eisenbahngesellschaften, die sich der Radmitnahme durch Passagiere verweigern. Doch die Erzählungen verteufelten sie nicht als inhärent „böse“: Stets wurden weiterhin Forderungen an sie gerichtet, die sie theoretisch erfüllen könnten, um aus der Rolle der Antagonisten heraus und in die Rolle der Helfenden hineinzuschlüpfen, ohne befürchten zu müssen, ihr Gesicht zu verlieren.
Publikation:
Kallenbach, T. (2021): Von Kopenhagen lernen: Erfolgreiche Narrative für eine nachhaltige urbane Mobilität; Ergebnisse einer repräsentativen Analyse des dänischen Zeitungsdiskurses der Jahre 1977 bis 1983. - IASS Discussion Paper, März 2021.