Vorsorge und Innovation schließen einander nicht aus
01.07.2022
Das Team von „RECIPES“, einem von der EU über Horizon 2020 geförderten Projekt, hat seinen abschließenden Policy Brief veröffentlicht. Eine Gruppe rund um Pia-Johanna Schweizer vom Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) war daran beteiligt und hat bearbeitet, wie Partizipation zusammen mit dem Vorsorgeprinzip gelingen kann. Im Leitfaden für die Anwendung dieses Prinzips in der EU widmet sich ein Kapitel diesem Themenkomplex.
Am Beispiel der Zulassung von chemischen Stoffen wie etwa Pestiziden oder am Einsatz von Nanotechnologie lässt sich erklären, worum es bei der Forschung des Projekts "REconciling sCience, Innovation and Precaution through the Engagement of Stakeholders" (RECIPES) geht: Das Vorsorgeprinzip soll verhindern, dass irreversible Schäden an Umwelt oder menschlicher Gesundheit entstehen. Es kann deshalb als Rechtsgrundsatz ein frühzeitiges politisches oder regulatorisches Handeln rechtfertigen, um ungewisse Risiken von Stoffen oder Produkten bereits im Vorfeld zu vermeiden. Wird es angewendet, können die Persönlichkeitsrechte der EU-Bürger von heute und morgen geschützt werden.
Als Kompass für die Wissenschaft kann das Vorsorgeprinzip wiederum zu Forschungsarbeiten über potenzielle Auswirkungen neuer Technologien oder Stoffe führen, was oftmals zu Anpassungen bei der Entwicklung führt und verantwortungsvolle Innovationen fördert.
„Unser Ergebnis ist, dass sich Vorsorgeprinzip und Innovationen keineswegs ausschließen“, sagt IASS-Wissenschaftlerin Schweizer. „Im Gegenteil, es braucht das Vorsorgeprinzip, um nachhaltige Innovationen zu fördern.“ Die Autorinnen und Autoren des abschließenden Policy Brief „Precaution for responsible innovation“ ziehen aufgrund ihrer Analysen das Fazit, dass das Vorsorgeprinzip eine zweifache Funktion hat: Es dient sowohl als Schutz vor irreversiblen Schäden als auch als Kompass, der verantwortungsvolle Innovationen anleitet.
Partizipation – oder: das Wissen vieler
Bei Situationen mit hohen Unsicherheitsgraden laute eine Schlüsselfrage: Wie können der Schweregrad einer (künftigen) Situation und die Angemessenheit von Vorsorgemaßnahmen beurteilt werden, wenn der potenzielle Schaden und seine Wahrscheinlichkeit unbekannt oder sehr ungewiss sind? In dieser Situation kann die Sichtweise einer Vielzahl von Wissensträgerinnen und -trägern als auch Interessensgruppen hilfreich sein, um ein Gleichgewicht zu finden, z.B. zwischen Umweltschutz und ökonomischen Interessen.
Wenn ein unbestimmtes Risiko stark divergierende soziokulturelle Einstellungen, politische Perspektiven oder wirtschaftliche Interessen mit sich bringt, kann eine breite gesellschaftliche Diskussion erforderlich sein, um zu um Vorsorgemaßnahmen zu erarbeiten.. So können partizipative Prozesse Wissens-, Werte- und Interessenkonflikte im Zusammenhang mit dem Umgang mit ungewissen Risiken aufdecken und lösen helfen.
In solchen Fällen hat Partizipation drei Aufgaben:
- Wissensbestände aufzudecken und zusammenzuführen – innerhalb und außerhalb der Wissenschaft;
- Potenzielle Hindernisse bei der Umsetzung von Entscheidungen zu antizipieren; und
- Normen, Werte und Weltsichten noch so diverser Art in Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen.
Eine Beteiligung der Öffentlichkeit ist in internationalen Verträgen wie dem Übereinkommen von Aarhus von 1998 und der EU-Umweltgesetzgebung verankert. Die partizipativ-deliberativen Praktiken müssen jedoch weiter verbessert werden, damit Politik und Entscheidungstragende in der Lage sind, sich mit der Vielzahl von Risiken auseinanderzusetzen, die mit den dringendsten gesellschaftlichen Problemen verbunden sind. Faire und kompetente Beteiligung setzt voraus, dass politische Entscheidungsträgerinnen und -träger sowie Regulierungsbehörden in der Lage sind, den Good-Governance-Praktiken und adaptiven Entscheidungsfindungsprozessen den Vorrang einzuräumen. Diese Forderung sollte schon bei der Zuteilung von Ressourcen berücksichtigt werden.
Letzten Endes stärke das Vorsorgeprinzip durch seine doppelte Rolle die EU darin, wissenschaftlich unsichere, aber plausible und potenziell schwerwiegende Risiken zu antizipieren, zu identifizieren und proaktiv zu bewältigen. Und es trage dazu bei, so das Autorenteam, Wissenschaft und Technologie auf gesellschaftlich nützliche Ziele (um)zu lenken.
Vorgehensweise beim Projekt „RECIPES“
Für das Projekt RECIPES wurde Literatur aus fünf europäischen Ländern seit dem Jahr 2000 ausgewertet. Dazu zählte eine rechtliche Analyse, wie das Vorsorgeprinzip auf internationaler Ebene und auf EU-Ebene angewendet wurde. Neun Fallstudien und eine fallübergreifende Analyse wurden angefertigt zum Verständnis, zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei der Anwendung des Vorsorgeprinzips auf Innovationen in der EU je nach Thema und Kontext.
Ein einjähriger Beteiligungsprozess, an dem Teilnehmende aus Politik, Industrie, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft teilnahmen, ermittelte die Bedürfnisse bezüglich der Anwendung des Vorsorgeprinzips. Die Beteiligten seien gefragt worden, was erforderlich ist, damit das Vorsorgeprinzip verantwortungsvolle Innovation fördert und zum Erreichen gesellschaftlicher Ziele wie Umweltschutz und die Erhaltung menschlicher Lebensgrundlagen beiträgt.
Publikationen:
Johannes Andresen Oldervoll et al.: Policy Brief - Precaution for responsible innovation: Guidance on the application of the precautionary principle in the EU, 2022.
Johannes Andresen Oldervoll et al.: Guidance on the application of the precautionary principle in the EU, 30 April 2022.