Warum die Mobilitätswende von unten kommt
24.02.2025
In vielen Städten anderer Länder wird die Mobilitätswende von der Politik vorangetrieben, während hierzulande der Anstoß aus der Zivilgesellschaft kommt. In Berlin und in anderen deutschen Städten setzen Bürgerinnen und Bürger die Mobilitätswende auf die Agenda wie etwa die Kiez- oder Superblocks: städtische Wohnquartiere ohne Durchgangsverkehr. Diese wurden bereits vielmals politisch beschlossen, jedoch über Jahre nicht realisiert. Mit der Kluft zwischen Entscheidung und Umsetzung politischer Beschlüsse haben sich die Forschenden Nicolina Kirby und Dirk von Schneidemesser vom Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) befasst. Sie zeigen am Berliner Beispiel der Kiezblocks wie zivilgesellschaftliche Akteure mit politischem und medialem Agenda-Setting lokal die Mobilitätswende vorantreiben.
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Das Autorenduo sieht in seinem Beitrag im „Handbuch Mobilität und Gesellschaft“ auf der einen Seite einen übergeordneten Konsens in der Gesellschaft, dass die Mobilitätswende gewünscht wird. Auf der anderen Seite aber ein Festhalten am Status quo, was dazu geführt habe, dass trotz viele Kiezblocks Beschlüsse und das Berliner Mobilitätsgesetzes von 2018 kaum realisierte Kiezblock existieren.
Was ist ein Kiezblock?
Kiezblocks sind Quartiere, in denen die Durchfahrt des Auto- und Lkw-Verkehrs unterbunden ist. 2021 sind Kiezblocks als Ziel im Berliner Koalitionsvertrag festgeschrieben worden. Der Begriff eines Kiezblocks beruft sich aufs Konzept der Superblocks in Barcelona und kombiniert ihn mit dem Berliner Ausdruck „Kiez“, dem lokalen Synonym für Nachbarschaft, Quartier oder Viertel. Auf diese Weise wird das Konzept quasi nach Berlin verpflanzt. Bei diesem Beispiel aus dem Beitrag der beiden Forschenden ist die Stadtbevölkerung schließlich einen anderen Weg gegangen: Es wurden Unterschriften gesammelt, um „Kiezblocks“ per Antrag von Einwohnerinnen und Einwohnern (Einwohner*innenantrag) im zuständigen kommunalen Parlament eingefordert worden. Parallel haben die Antragsstellenden Öffentlichkeitsarbeit betrieben: lokale Medien wurden mit Informationen und Fotos zum Projekt bestückt, es sind Aktionen durchgeführt, Interviews gegeben und aktuelles Material auf sozialen Medienkanälen veröffentlicht worden.
Eine Veränderung der Verkehrspolitik ist eine große Herausforderung, auch weil Jahrzehnte lang Richtungsentscheidungen getroffen wurden, die das Auto bevorzugen. Das Auto als privilegierter Verkehrsträger wurde fast hundert Jahre lang legal, fiskalisch, und politisch verankert, auch in den Verordnungen über Baunormen und Standards“, erläutert RIFS-Wissenschaftler Dirk von Schneidemesser. „Das macht es schwierig für neue Menschen und neue Ideen bei diesen Entscheidungen mitzumischen.“
In ihrem Artikel „Zivilgesellschaft als Treiber der Mobilitätswende“ bezeichnen die beiden RIFS-Mitarbeitenden den Dissens zwischen Ankündigungen und Erwartungen auf der einen Seite und den Umsetzungen auf der andern als ‚Responsivity Gap‘, was übersetzt so viel bedeutet wie Lücke in der Reaktion. Es bestehe eine Kluft zwischen den Erwartungen der Regierten und den Maßnahmen der Regierenden, so ihre Analyse.
Eine repräsentative Umfrage des BMU habe ergeben, dass 89 Prozent der Bürgerinnen und Bürger der Meinung seien, dass sich die Verkehrspolitik an den Interessen der Wirtschaft orientiere und nur 21 Prozent meinten, sie orientiere sich auch an den Interessen der Bürgerinnen und Bürger. Bis November 2024 sind in Berlin 36 Kiezblock-Projekte genehmigt, aber nur sehr wenige tatsächlich errichtet worden.
So scheint es nicht weiter verwunderlich, dass Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in den vergangenen Jahren zunehmend Gebrauch machten von demokratischen Mitteln, um die Verkehrswende voranzutreiben. Um den Responsivity Gap zu adressieren werden in der Regel demokratische Entscheidungsverfahren auf der lokalen Ebene verknüpft mit medialem Agenda-Setting. Im Beitrag von Schneidemesser und Kirby wird diese Aktion als ‚claimed space‘ bezeichnet: ein Handlungsraum, den die Bürgerinnen und Bürger selbst schaffen. In Berlin seien diese Anträge von Einwohnerinnen und Einwohnern im zuständigen kommunalen Parlament eingefordert wo gesetzlich vorgesehen, die jedoch voraussetzen, dass Bürgerinnen und Bürger diesen ‚Raum der Partizipation‘ auch beanspruchen. Diese Anträge haben jedoch den Vorteil, dass die Bürgerschaft selbst entscheiden könne, um welches Thema es gehe, und es nicht vorgegeben bekomme, wie beispielsweise bei Bürgerinnenräten.
Fazit der Analyse: „Am Beispiel der Kiezblocks ist zu sehen, dass die Zivilgesellschaft städtische Veränderung vorantreiben kann“, sagt Autor von Schneidemesser. „Eigentlich müsste dieser Gestaltungswunsch auf fruchtbaren Boden fallen, aber Gewohnheiten – auch in politischen Prozessen – sind stark. Die Privilegien des Autos sind in unseren Städten zementiert worden, teilweise wortwörtlich aber auch im übertragenen Sinne. Viele Bürgerinnen und Bürger sind da schon weiter.“
So gebe es Kiezblock-ähnliche Initiativen in mindestens zehn weiteren deutschen Städten - von Leipzig über Darmstadt und Hamburg. Wer aus Politik und Verwaltung eine Mobilitätswende verwirklichen möchte, könnte diese Energie der Zivilgesellschaft nutzen, weil sie eben nicht in korporatistischen Strukturen verhaftet sei. Ebenso könnten repräsentativ-deliberative Formate wie Bürgerräte eine Antwort auf die Forderungen der Zivilgesellschaft darstellen. „Einerseits wäre ihre Realisierung eine ermutigende Reaktion auf Arbeit der Zivilgesellschaft für die Mobilitätswende, andererseits könnte sie dazu beitragen, das Thema weiter nach oben auf die politische und mediale Agenda zu setzen“, so die Schlussfolgerung von Kirby und von Schneidemesser.
Publikation:
Dirk von Schneidemesser und Nicolina Kirby: Zivilgesellschaft als Treiber der Mobilitätswende: Kiezblocks als Beispiel für Stadtgestaltung von unten, Handbuch Mobilität und Gesellschaft 2024.
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37804-2_28-1.
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