Was steckt hinter transdisziplinärer Forschung?
27.01.2022
Die Probleme unserer Zeit sind mit gängigen Methoden schwer zu bewältigen. Einen wichtigen Fortschritt dafür bietet die transdisziplinäre Forschung, weil dabei nicht-akademische Akteure mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen an Lösungen arbeiten. Trotz wachsender Popularität hat dieser Ansatz noch nicht Eingang in den Alltag wissenschaftlicher Praxis gefunden und wird häufig missverstanden. In einer Publikation des Instituts für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) stellt das Autorenteam Definitionen und Konzepte vor und beschreibt ein Drei-Phasen-Modell, mit dem transdisziplinäre Teams erfolgreich sein können.
Seit nunmehr 50 Jahren stehen die Begriffe "transdisziplinär" und "Transdisziplinarität" für eine besondere Forschungsform. Ein solch langjähriges Interesse an Transdisziplinarität aus den unterschiedlichsten Perspektiven erklärt zugleich, weshalb auch eine Fülle von Definitionen und sehr verschiedene Ansätze darüber existieren.
Um schneller zu einem gemeinsamen Verständnis zu gelangen, hat das Autorenteam des IASS die folgenden sieben Schlüsselmerkmale identifiziert:
- Schwerpunkt auf einer theoretischen Einheit des Wissens, um die Grenzen der Disziplinen zu überwinden
- Einbeziehen multidisziplinärer und interdisziplinärer Forschung
- (nicht-akademische) gesellschaftliche Akteure sind Prozessbeteiligte
- Betrachtung komplexer Probleme der realen Welt
- transformative Arbeitsweise
- Gemeinwohlorientierung
- bewusste Berücksichtigung eines breiteren Kontextes während des gesamten Projekts
Phasenkonzept der transdisziplinären Forschung
Transdisziplinäre Forschungsvorhaben werden oft in einem Drei-Phasen-Modell durchgeführt: In der ersten Phase wird der Rahmen für das transdisziplinäre Projekt festgelegt. Um welche gesellschaftliche Herausforderung geht es? Die Problemstellung muss so definiert sein, dass sie für alle beteiligten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Akteure von konkretem Interesse ist. Dieser Prozess wird „Problemtransformation“ genannt. In dieser Phase müssen zugleich die wichtigsten Wissenslücken ermittelt und ein Forschungskooperationsteam zusammengestellt werden.
Die zweite Phase diene der Entwicklung und Anwendung integrativer Methoden zur gemeinsamen Wissenssammlung. In dieser Phase sei es wichtig zu definieren, „wer was mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck im Team“ beitrage. In der dritten Phase werde das gemeinsam erarbeitete Wissen aus der zweiten Phase des Projekts dokumentiert und gesellschaftlich verwendet. Die Integration der Ergebnisse in die Wissenschaft werde durch bekannte Formen wie wissenschaftliche Publikationen und Vorträge geleistet, könne aber auch zur Entwicklung neuer Forschungsfelder führen und im Extremfall zu wissenschaftlichen Paradigmenwechseln beitragen.
Die Ergebnisse werden in die Gesellschaft durch Anhörungen, politische Debatten, Verhandlungen und andere dialogische Formate hineingetragen. Indem gesellschaftliche Akteure beteiligt sind, kann die Wissensanwendung einen anderen Grad an Legitimität erreichen als es bei der traditionellen Form des Wissenstransfers von der Wissenschaft in die Politik oder in andere gesellschaftliche Gruppen möglich ist.
Die Autoren und die Autorin nennen in ihrer Publikation in „OneEarth“ Beispiele fürs Einbeziehen nicht-akademischer Akteure in IASS-Projekte. So wurde etwa beim DiDaT-Projekt (Digitale Daten als Gegenstand eines transdisziplinären Prozesses) auf vorhandenes Prozesswissen zurückgegriffen, um akademische und nicht-akademische Akteure zu integrieren.
Prozesswissen als Schlüsselkomponente
Dem Autorenteam ist wichtig den Punkt des „Prozesswissens“ in den Vordergrund zu rücken: Es sollte den nicht-spezialisierten Forschungsgemeinschaften als Anleitung zugänglich gemacht werden. „Dieses Wissen, wir nennen es auch Prozessexpertise oder katalytisches Wissen, hilft bei der Auswahl von Werkzeugen, Methoden und Projektstrukturen, die im Kontext des transdisziplinären Forschens hilfreich sind“, erklärt Erstautor Prof. Mark Lawrence. Dazu hat das IASS eine eigene Studie erstellt - unter dem Titel Welche Expertise ist fürs Gestalten von Kollaboration nötig? wird sie vorgestellt. Dieses Prozesswissen nimmt eine wichtige Rolle bei solchen Forschungsvorhaben ein, während es in der größeren, traditionell disziplinären und interdisziplinären Forschungslandschaft weniger nachgefragt wird.
Wofür braucht es „transdisziplinäre“ Forschung?
Im Kontext zunehmend komplexer und vernetzter gesellschaftlicher sowie ökologischer Herausforderungen wie es Klimawandel, Digitalisierung oder Pandemien sind, ist eine rein linear angelegte Erkenntnisvermittlung im Stile der „Wenn-dann-Beziehungen“ nicht mehr sinnvoll. Dagegen kann die wissenschaftsbasierte Politikberatung bei Entscheidungen mit geringer Unsicherheit sehr effektiv sein: Ein Beispiel sei hierfür die Frage nach der besten Platzierung eines Messgeräts, um Luftverschmutzung wirksam überwachen zu können.
Die gesteigerte Form der Komplexität gesellschaftlicher Herausforderungen heutzutage sind jedoch die so genannten "wicked problems". Sie sind nicht nur komplex, sondern treten unverhofft auf, sind grenzüberschreitend und untereinander verbunden. Es liegt daher keine eindeutige Lösung vor, sondern es existieren diverse Wege, wie mit Kosten und Nutzen für die beteiligten Fraktionen umgegangen werden kann. Die Beantwortung von Problemen dieser Art benötigt folglich eine neue Herangehensweise, die transdisziplinär arbeitende Teams leisten können.
Deshalb sei es schlussendlich wichtig, ein besseres Verständnis für Transdisziplinarität zu schaffen, so die Autoren und die Autorin. Insbesondere in der Gemeinschaft der Forscherinnen und Forscher, die sich mit nachhaltigkeitsbezogenen Themen befassen, sei dies unerlässlich. Dazu Erstautor Lawrence: „Ein verbessertes Verständnis innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft wird in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen, da sich viele große Förderprogramme wie etwa das EU-Programm Horizont 2020 immer öfter auf transdisziplinäre Forschung berufen, gerade vor dem Hintergrund einer nachhaltigen Entwicklung.“
Publikation:
Mark G. Lawrence, Stephen Williams, Patrizia Nanz, Ortwin Renn: Characteristics, potentials, and challenges of transdisciplinary research, OneEarth One Earth Volume 5, Issue 1, 21 January 2022, Pages 44-61. DOI: https://doi.org/10.1016/j.oneear.2021.12.010