Von der goldenen Gans und dem hässlichen Entlein: Auswirkungen der Pandemie auf den argentinischen Energiesektor
14.05.2020
Argentinien gehört zu den Ländern, die von den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der derzeitigen Pandemie am stärksten betroffen sind. Die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) prognostiziert die schlimmste Wirtschaftskrise in der Geschichte Lateinamerikas, mit einem Rückgang des BIP um über 5 % und Millionen weiterer Menschen, die in die Armut gedrängt werden. Argentinien, das derzeit seine massive Auslandsverschuldung neu verhandelt, könnte einen Rückgang des BIP um 6,5 % oder mehr erleiden. Um die Auswirkungen der Krise abzumildern, reagiert die Regierung mit einigen Sofortmaßnahmen - Steueraufschub, Subventionen für einkommensschwache Familien und spezielle finanzielle Maßnahmen für verschiedene Sektoren einschließlich des Energiesektors. Zudem plant sie ein ehrgeiziges Wiederaufbauprogramm. Die Entscheidungen, die heute getroffen werden, werden auf den Energiesektor wahrscheinlich noch jahrzehntelang tiefgreifende Auswirkungen haben. Sie sind beeinflusst von Visionen und Erzählungen über die verschiedenen Sektoren, wobei Öl und Gas die „goldene Gans“ und erneuerbare Energien das „hässliche Entlein“ sind.
Hohe Subventionen für einen dominanten Öl- und Gassektor
Das Energiesystem Argentiniens ist in hohem Maße von fossilen Brennstoffen abhängig, insbesondere von Öl und Gas. Kohlenwasserstoffe machen 85 % der Energieproduktion des Landes aus. Im Elektrizitätssektor stieg die installierte thermische Leistung (hauptsächlich Gaskraftwerke) von 15,6 GW im Jahr 2009 auf 24,5 GW im Jahr 2018.
Das Land hat die Ölindustrie seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gefördert, vor allem durch das teilweise in Staatsbesitz befindliche Unternehmen YPF. Dieses Unternehmen und der gesamte Ölsektor gelten auch heute noch als eine Säule der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Angesichts abnehmender konventioneller Öl- und Gasreserven hat sich die politische Aufmerksamkeit auf die Erschließung der riesigen Schiefer-Öl- und Gasfelder des Landes, insbesondere der Formation Vaca Muerta, gerichtet. Diese ist eine der größten Reserven der Welt, und die Regierung betrachtet sie als nationale goldene Gans. In Anlehnung an seine Vorgänger erklärte Präsident Fernández in einer Rede vor dem Kongress im März, dass „Kohlenwasserstoffe ein Hebel für die produktive Entwicklung unseres Landes sein werden“.
Die Realität dieser Reserven ist jedoch weniger vielversprechend. Selbst ungeachtet der negativen sozialen und ökologischen Auswirkungen ihres Abbaus sind sie nicht wettbewerbsfähig. Der Sektor hat relativ hohe Produktionskosten und konnte sich bisher ohne staatliche Unterstützung nicht entwickeln. Das Öl- und Gas-Oligopol (eine kleine Gruppe von nationalen und internationalen Unternehmen) erhielt von 2008 bis 2018 Subventionen in Höhe von rund 24 Milliarden US-Dollar, eine für die Größe der argentinischen Volkswirtschaft gigantische Summe.
In der gegenwärtigen Krise haben die in Argentinien tätigen internationalen Ölgesellschaften erhebliche Kürzungen bei Kosten und Investitionen angekündigt. Das hoch verschuldete Unternehmen YPF, dessen Aktien an der New Yorker Börse im April in den Keller stürzten, ist diesem Beispiel weitgehend gefolgt. Die Pandemie zeigt einmal mehr, dass Investitionen in diesem Sektor sehr anfällig für Schwankungen auf den internationalen Ölmärkten und Wirtschaftskrisen im Allgemeinen sind. Zuletzt muss dann die Regierung mit einem Rettungspaket eingreifen.
Jedes Mal, wenn der internationale Ölpreis fällt, dringt die Ölindustrie darauf, einen lokalen Preis – den so genannten „Barril Criollo“ – festzulegen, der höher ist als der internationale Preis, wobei die Differenz von der nationalen Regierung getragen wird. Gegenwärtig setzen sich ein Teil der Ölindustrie und die Gouverneure der ölproduzierenden Provinzen (wie Neuquen und Santa Cruz) für einen Barril Criollo von 54 US-Dollar ein. Ein offizieller Erlass muss noch veröffentlicht werden, aber die Regierung hat dem Druck der Industrie nachgegeben und bis Ende des Jahres einen Preis von 45 Dollar festgelegt. Die gegenwärtige Pandemie hat zu einem Einbruch der Ölpreise geführt, der wahrscheinlich nicht so bald rückgängig gemacht werden kann, so dass diese Maßnahme erhebliche neue Subventionen für den Mineralölsektor bedeutet. Um einen erneuten Anstieg des Benzinpreises zu vermeiden, setzte die Regierung zudem den Preis an der Zapfsäule bis mindestens Dezember 2020 fest.
Ein häufiges Argument für die Erschließung der argentinischen Schieferöl- und Gasfelder ist, dass sie lokale Arbeitsplätze schaffen und Unabhängigkeit von Öl- und Gasimporten ermöglichen. Das Land muss nun jedoch überlegen, inwieweit diese Sektoren von staatlichen Subventionen profitieren sollten und welche Alternativen es gibt. Dieselben Erwägungen sollten für die Verbindungen zwischen dem Staat und dem YPF angestellt werden. In den kommenden Jahren könnte die wirtschaftliche Erholung von einem robusten öffentlichen Unternehmen profitieren. Aber sollte dieses Unternehmen weiterhin in stark verschmutzende Energiequellen investieren, deren Tage gezählt sind, oder sollte es sich stattdessen vielversprechenderen und saubereren Energiequellen zuwenden?
Junger Sektor der erneuerbaren Energien ist von der Krise bedroht
1998 war Argentinien das erste Land Lateinamerikas, das die staatliche Förderung von Strom aus erneuerbaren Energien einführte. Der Sektor wird jedoch immer noch als „hässliches Entlein“ wahrgenommen: ganz nett, aber weit weniger wichtig als der ewig „vielversprechende“ Sektor der fossilen Brennstoffe. Die anfänglich höheren Kosten dieser Technologien und akute Wirtschaftskrisen haben ihren Einsatz über viele Jahre behindert. In jüngerer Zeit haben Förderprogramme wie RenovAr den Aufschwung erneuerbarer Technologien, insbesondere der Windkraft und der Photovoltaik, ermöglicht. Der Anteil erneuerbarer Energien am Stromverbrauch in Argentinien ist von 2 % im Jahr 2017 auf 8 % im Jahr 2019 gestiegen; bis 2025 soll er auf 20 % anwachsen. Um dies zu erreichen, benötigt der Sektor größere und kontinuierliche Unterstützung durch die Regierung: Es wurden Fortschritte erzielt, aber die Geschwindigkeit des Ausbaus muss erhöht werden. Leider scheint die neue Regierung das Interesse an diesem Sektor, der nun von der Pandemie betroffen ist, verloren zu haben.
Viele große Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien, die Ausschreibungen gewonnen haben, haben derzeit keinen Zugang zu notwendigen Finanzmitteln und könnten daran scheitern. Gegenwärtig werden 25 Wind- und Solarprojekte, die im Rahmen des RenovAr-Auktionsprogramms vergeben wurden, für insgesamt 1307 MW neu verhandelt. Die Projekte haben eine hohe Priorität und sind wirtschaftlich tragfähig – die bei den Auktionen erzielten Durchschnittspreise sind im nationalen und internationalen Vergleich konkurrenzfähig - aber sie haben keinen Zugang zu einer Finanzierung zu angemessenen Raten. Die argentinische Schuldenkrise, die Pandemie und das mangelnde Interesse einer Regierung, die mit mehreren Krisen gleichzeitig zu tun hat, haben den Sektor in eine abwartende Haltung versetzt.
Die dezentrale Erzeugung ist eine Nische mit sehr hohem Potenzial. In den Jahren 2018 und 2019 begann Argentinien mit der Umsetzung des neuen Gesetzes 27424, das Vorschriften zur dezentralen Stromerzeugung enthält. Projekte müssen unter 2 MW bleiben und können überschüssigen Strom über ein Nettoabrechnungssystem an die Verteilnetzbetreiber zurückverkaufen. Argentinien war in Bezug auf diese dezentralen Technologien ein Spätstarter und hat nun die Möglichkeit, ihren Einsatz als Reaktion auf die Krise erheblich zu steigern. Tatsächlich bieten sie mehrere soziale und wirtschaftliche Vorteile für die die Zeit nach der Coronakrise. Erstens stärken diese Technologien die Autarkie und Resilienz der Nutzer und ermöglichen erhebliche Einsparungen bei den Energierechnungen von Haushalten und kleinen und mittleren Unternehmen. Zweitens sind sie nicht von großen Kapitalinvestitionen einiger weniger Akteure abhängig, wodurch eine solche Entscheidung dezentralisiert und auf eine breit gefächerte Gruppe von Investoren verteilt wird. Drittens tragen sie zur Diversifizierung und Dekarbonisierung des Strommixes bei, einem der langfristigen Ziele des Landes. Und schließlich sind sie zusammen mit anderen Technologien wie Speicherung, intelligenter Messung, Nachfragemanagement und E-Mobilität ein entscheidendes Element eines saubereren und zuverlässigen Elektrizitätssystems.
Für ein widerstandsfähigeres, gerechteres und saubereres Energiesystem nach der Krise
In den kommenden Wochen und Monaten muss die argentinische Regierung grundlegende Entscheidungen treffen, die das Energiesystem für die nächsten Jahrzehnte prägen werden. Eine Exit-Strategie aus der Krise könnte darin bestehen, den Sektor der fossilen Brennstoffe zu unterstützen und die Bindung des Landes an alte umweltschädliche Technologien zu verstärken. Eine alternative Strategie wäre der Einstieg in ein neues Entwicklungsparadigma, das neue und saubere Technologien in strategischen Sektoren wie Energie, Verkehr und Landwirtschaft aktiv unterstützt.
Im März 2020 kündigte die Regierung ein Konjunkturpaket in Höhe von 11 Milliarden US-Dollar für die Zeit nach der Krise an. Ohne die Unterstützung der privaten Finanzmärkte, die derzeit für das Land geschlossen, und der internationalen Finanzinstitutionen, scheint ein ehrgeizigeres Konjunkturpaket unwahrscheinlich. Angesichts der Umstände kommt es auf jeden Peso der öffentlichen Ausgaben an. Da nicht alle Sektoren gleichzeitig unterstützt werden können, muss die Regierung Entscheidungen treffen.
Die Vaca Muerta wird als goldene Gans dargestellt, aber in Wirklichkeit ist sie von Subventionen abhängig. Das wird sich nur ändern, wenn die Ölpreise stark steigen und nach der Coronakrise hoch bleiben, was sehr unwahrscheinlich ist. Der Sektor der fossilen Brennstoffe, der von wenigen großen Unternehmen bestimmt wird, wird dem Land und seinen Menschen wahrscheinlich nicht helfen. Öffentliche Gelder sollten daher in vielversprechendere Sektoren investiert werden. Wie oben diskutiert, ist die dezentralisierte Elektrizität ein Beispiel für eine Lösung, die den wirtschaftlichen Aufschwung stimulieren und gleichzeitig Familien und kleinen Unternehmen, die von der Krise schwer betroffen sind, direkt helfen kann. Darüber hinaus besteht die dringende Notwendigkeit, erneuerbare Energieprojekte im Versorgungsbereich zu unterstützen, die zwar bewilligt sind, denen aber die Finanzierung fehlt. Diesen aufstrebenden Sektor aufzugeben, wäre ein historischer Fehler.
Gleichzeitig muss Argentinien die Energiezusammenarbeit mit seinen Nachbarn überdenken. Die Pandemie verursacht bedeutende geopolitische Veränderungen, wobei Regionen (Nordamerika, Europa, China) versuchen, Industrien zu verlagern und Produktion und Verbrauch näher zusammenzubringen. Die südamerikanischen Länder müssen ihre Produktionsstrategien in verschiedenen Sektoren neu bewerten, einschließlich der Organisation regionaler Wertschöpfungsketten rund um erneuerbare Energien und Speichertechnologien. Die Zusammenarbeit im Bereich der erneuerbaren Energien und der Infrastruktur könnte allen Ländern in der Region Vorteile bringen, nicht zuletzt durch die Verbesserung der Energiesicherheit, die Erleichterung des Zugangs zu Finanzmitteln und die Schaffung regionaler Wertschöpfungsketten.