Der brasilianische Amazonas-Deal: Zwischen Schutz und Entwicklung
29.10.2020
Die brasilianische Geografin Bertha Becker definiert den Amazonasraum als die älteste Peripherie des kapitalistischen Weltsystems. Die koloniale Besetzung, die als ‚Grenzwirtschaft‘ bezeichnet wurde, basiert auf der kontinuierlichen Einverleibung von Landgebieten und der Ausbeutung ihrer Ressourcen. Dabei werden sowohl Land als auch Ressourcen als unbegrenzt angesehen. Diese Perspektive existiert seit Jahrhunderten und wird bis heute von Brasilien reproduziert. Um die wachsende Nachfrage nach Rohstoffen zu bedienen, wurde dem Wald von außen ein niedriger Wert beigemessen, der nichts mit seinen eigentlichen Leistungen zu tun hat. Diese Haltung befördert Waldzerstörung und ist nicht nachhaltig. Ein Modell für eine nachhaltige Entwicklung des Amazonasraums wäre jedoch realisierbar und könnte ein wesentlicher Bestandteil der Bemühungen zur wirtschaftlichen Erholung Brasiliens nach der Pandemie sein.
Angesichts dieses Szenarios stellen sich zwei Fragen: 1. Wie können Perspektiven gestärkt werden, die zur Wertschätzung des intakten Waldes führen? Und 2. Wie kann man ein Narrativ stärken, das neue Praktiken für grünes Wachstum beinhaltet?
Ein neuer Weg ist möglich
Laut Angaben von Mapbiomas verlor der brasilianische Amazonaswald zwischen 1985 und 2018 47 Millionen Hektar (eine Fläche größer als Schweden), von denen 83% zu Weideland und 12% zu Plantagen wurden. Von dieser Gesamtfläche werden 86% nicht oder nicht ausreichend genutzt, was in der Regel auf unproduktive Viehzucht (weniger als ein Rind pro Hektar) zurückzuführen ist. Zwischen 2002 und 2014 hat Brasilien jedoch gezeigt, dass Wachstum nicht mit Abholzung verbunden sein muss: Trotz des Rückgangs der Abholzungsraten um mehr als 83% stieg das Bruttoinlandsprodukt der Landwirtschaft. Dies war durch die Produktivitätssteigerung auf bereits besiedeltem Land und der Wiederherstellung degradierter Waldflächen möglich. Das Wachstum verwandelte sich jedoch nicht in lokale Gewinne ähnlichen Ausmaßes. Obwohl Amazonien zwischen 1960 und 2015 wirtschaftlich überdurchschnittlich zulegte (5,9% gegenüber 4,1%), bleibt er weiterhin die ärmste Region des Landes und hat Probleme bei der Einkommensverteilung.
Eine aktuelle Studie von WRI Brasil und Coppe/UFRJ zeigt, dass ein grünes Wachstum, welches Innovationen in verschiedenen Sektoren einschließlich der Landwirtschaft fördert, das BIP um bis zu 2,8 Milliarden Real steigern und zudem Auswirkungen des Klimawandels bekämpfen kann. Wir untersuchen drei Aspekte, die in einem neuen Entwicklungsmodell vorhanden sein müssen: 1. Die Erweiterung der Produktionsbasis und der Technologie, 2. Zahlungen für Umweltdienstleistungen und 3. den Klimawandel.
Die Vielzahl der Nichtholzwaldprodukte aus dem Amazonasgebiet ermöglicht eine Erweiterung seiner wirtschaftlichen Basis. Eine UFMG-Studie zeigt, dass ein mit Açai (Euterpe oleracea) bewirtschafteter Hektar ein Einkommen von 26.800 Real (4.288 Euro) generieren kann - etwa das 10-fache von Soja. Ein weiterer Punkt, den Caetano Scannavino von der NGO Saúde & Alegria aufgezeigt hat, ist das Gift des Gelben Skorpions, das pro Gramm 371.000 Real (knapp 60.000 Euro) erzielen kann. Wichtig ist auch, Formeln für Arzneimittel zu berücksichtigen, die aus Waldprodukten entwickelt wurden. Captopril, aus Jararaca-Gift entwickelt und in den USA patentiert, erzielt jährlich einen Umsatz von etwa acht Milliarden US-Dollar. Investitionen in Wissenschaft, Technologie und Innovation bieten Möglichkeiten zur Wertschöpfung, die bislang vergeudet wurden, und führen auf ausländischen Märkten zu Mehrwert. Beispiele wie das von Açai erfordern umfangreiche Arbeitskraft und basieren auf gemeinschaftlichen Produktionsmodellen, welche die Erhaltung des Waldes ermöglichen.
In Bezug auf Ökosystemleistungen trägt der Wald erheblich zur landwirtschaftlichen Produktion bei – zum Beispiel bei der Regulierung des Wasserkreislaufs auf dem Kontinent. Ein beträchtlicher Teil des für die brasilianische Produktion unverzichtbaren Wasserflusses stammt aus Systemen, die als „fliegende Flüsse“ bezeichnet werden und vom intakten Wald erzeugt und aufrechterhalten werden. Diese „Flüsse“, die aus Evapotranspirations-Zyklen stammen, bewässern die nationale Landwirtschaft. Es wird vermutet, dass dieses Wasservolumen mindestens doppelt so groß ist wie das Volumen des Amazonas. Die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Waldschutz und Wassersicherheit ist klar und muss bewertet werden.
Ein weiteres zentrales Merkmal ist die Rolle Brasiliens und des Waldes in der globalen Diskussion über den Klimawandel. Brasilien war bisher weltweit führend in Diskussionen über Positionierung und finanzielle Kompensationen und bestärkte Diskussionen wie REDD+. Gleichzeitig spielte es eine zentrale multilaterale Führungsrolle im globalen Süden und förderte den Multilateralismus und die internationale Zusammenarbeit auf der Grundlage von Umweltdiskussionen. Trotz verfügbarer Mittel, die durch verschiedene internationale Abkommen bereitgestellt werden, bleiben viele Kosten der vom Wald geleisteten Dienste unberücksichtigt, was die Reichweite bestehender Projekte einschränkt. Das Thema kommt nicht voran, unter anderem wegen unvereinbarer Zielvorstellungen bei Waldfragen.
Verschiedene Möglichkeiten zur Einkommensgenerierung werden im Prozess der Walderhaltung nicht berücksichtigt. Sowohl solche, die mit regionalen und globalen Diskussionen zu tun haben, als auch andere, die nicht einmal richtig untersucht werden oder an die man sich nicht heranwagt. Den Wald intakt zu erhalten bedarf verschiedener Maßnahmen, die zu einer volkswirtschaftlichen Dynamik und einer Neupositionierung Brasiliens auf globaler Ebene führen können. Ein Grundlagenabkommen zugunsten einer Neuentwicklung des Amazonaswaldes darf nicht aufgeschoben werden.
Brasilianische Neupositionierung
Der Gegensatz zwischen Schutz und Entwicklung ist nicht haltbar und schafft außerdem Narrative, welche die Konstruktion von Alternativen für ein innovatives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum in Brasilien verhindern. Zum einen müssen bei der Ausweitung der nationalen landwirtschaftlichen Tätigkeit Waldflächen respektiert und es muss in die Verbesserung ihrer Produktivität investiert werden. Zum anderen muss ein breiter Rahmen von politischen Programmen und Anreizen ermöglichen, die Entwicklung des Amazonasraums neu zu denken. Zu den fundamentalen Punkten gehören eine Diversifizierung und Stärkung der Wertschöpfungsketten auf der Grundlage von biologischer Vielfalt, technologischer Innovation, Ökosystemdienstleistungen und der Bekämpfung des Klimawandels.
Angesichts der Dringlichkeit von Maßnahmen zur Belebung des Wirtschaftswachstums meinen wir, dass ein Neues Brasilianisches Grünes Abkommen (Novo Acordo Verde Brasileiro) die Stärkung von Schutzgebieten, die Regulierung von Landbesitz, Null-Abholzung und ein vielschichtigeres Verständnis des Waldes beinhalten muss. Diese Ideen unterstützt auch das Entwicklungsmodell „Iniciativa Amazônia 4.0“ von Ismael und Carlos Nobre. Akteurin ist hier die lokale Bevölkerung des Amazonasgebiets unter Berücksichtigung von biologischer Vielfalt, technologischer Entwicklung und dem Wissen von indigenen und traditionellen Völkern. Kurz: ein Amazonasgebiet von Amazonien her gesehen.
Im Erfolgsfall kann solch ein notwendiges nationales Abkommen über Amazonien als Modell für bessere Verfahren weltweit und zur Neupositionierung Brasiliens auf der globalen Umweltagenda dienen. Eine solche Initiative würde nebenbei unsere Fähigkeiten stärken, dem „Anderen“ mit Empathie zu begegnen und mögliche neue Realitäten zu erträumen.
Eine Version dieses Artikels erschien in der Ausgabe 258/259 - Kommunikation und Aktion in der Krise - Wertewandel in Brasilien, Die Zeitschrift Brasilicum, einer von Die Kooperation Brasilien – KoBra” organisierten Publikation.
Dieser Beitrag auf Portugiesisch: O urgente acordo sobra a Amazônia brasileira: O falso dilema entre preservar e desenvolver